*Der Garten*

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Eigentlich möchte ich sofort gehen, aber mein Stolz hält mich zurück, also setze ich mich neben ihn. „Wo sind wir hier?", frage ich und versuche, möglichst unbeeindruckt zu wirken.

„Zwei Stunden von der Schule entfernt, bei mir zu Hause", antwortet Melcon mit einem schelmischen Grinsen. „Genauer gesagt: in meinem Garten."

Tolle Ortsangabe, denke ich. Nicht wirklich hilfreich.

„Na dann", sage ich mit gespielter Gelassenheit, „bring uns doch bitte zurück." Auffordernd strecke ich ihm meine Hand entgegen, die er ergreift, aber sonst rührt er sich nicht. Ich versuche, meine Hand zurückzuziehen, doch er hält sie fest. Was soll das denn jetzt? Zählt das nicht schon als Entführung?

„Wenn der Unterricht vorbei ist", sagt er mit ruhiger Stimme. „Also, lass uns anfangen." Er wirft mir ein Buch zu, auf dem groß „Lexikon der Lebewesen" steht. Na super, also geht es wieder um all die verschiedenen Kreaturen unserer Welt. Wie viele gibt es denn bitte?

„Wir spielen ein kleines Spiel", beginnt er und grinst breit. „Ich stelle dir Fragen über die Lebewesen in unserer Welt, und du hast zwei Minuten Zeit, zu antworten. Du kannst das Buch benutzen. Schaffst du es unter zwei Minuten, darfst du mir eine Frage stellen. Brauchst du länger, stelle ich dir eine weitere Frage. Alles klar?"

Ich nicke etwas unsicher, aber neugierig. Das könnte interessant werden.

„Und noch etwas", fügt er mit einem schiefen Lächeln hinzu. „Ich merke, wenn jemand lügt."

Mist. Das bedeutet, er wusste in der Bibliothek ganz genau, dass ich ihm nicht die Wahrheit gesagt hatte. Trotzdem hat er es nicht angesprochen. Nett von ihm, oder?

„Okay", fährt Melcon fort. „Erste Frage, ganz einfach: Was sind die speziellen Fähigkeiten der Medusen?"

Ich schlage hektisch das Buch auf, der Name kommt mir vage bekannt vor, aber was war das nochmal? Irgendwas mit Schlangen... Ich versuche, das Inhaltsverzeichnis zu finden, aber es ist zehn Seiten lang und chaotisch geordnet. Wer hat das bloß so geschrieben?

„Zeit vorbei", sagt Melcon plötzlich und lacht, als er meinen verzweifelten Gesichtsausdruck sieht. Verdammt, das ging schnell. Was will er jetzt wissen? Hoffentlich nichts über meinen Unfall. Bitte nicht, das wäre zu schmerzhaft.

„Gut, dann eine einfache Frage: Was ist dein Lieblingsessen?", fragt er unerwartet.

Ich blinzele perplex. Damit habe ich wirklich nicht gerechnet. „Äh... Currywurst", antworte ich etwas unsicher.

„Nicht besonders gesprächig heute, was?", neckt er mich. „Okay, nächste Frage: Welche Ränge gibt es bei Werwölfen und wofür stehen sie?"

Erleichtert, dass ich die Antwort weiß, sage ich: „Alpha, Beta und Omega. Der Alpha ist der Anführer, der Beta sein Stellvertreter und der Omega der Schwächste im Rudel."

„Gut", sagt er und lehnt sich zurück. „Dann bin ich wohl mit Fragen dran..."

Welche Frage soll ich ihm jetzt stellen? Etwas Allgemeines, vielleicht? Oder doch etwas Persönliches? Oder sollte ich direkt fragen, was er hier eigentlich mit mir vorhat? Schließlich hörte sich das, was Lisa erzählt hatte, nicht so an, als hätte man normalerweise viel mit ihm zu tun.

„Also, was ist deine Lieblingsfarbe?", frage ich schließlich, eher um Zeit zu schinden.

„Moosgrün", antwortet er ohne zu zögern.

„Okay", sage ich langsam. „Und jetzt zurück zu den Lebewesen: Was ist der größte Unterschied zwischen den verschiedenen Alben-Arten?"

Ich überlege kurz, ob ich überhaupt einen Versuch unternehmen soll, die Antwort im Lexikon zu finden, aber das würde ewig dauern.

„Wie wäre es, wenn wir dieses Frage-Antwort-Spiel etwas abwandeln?", schlage ich vor. „Ich lerne bis zur nächsten Stunde die ersten zehn Seiten dieses Buches, und wir machen dann weiter."

„Abgemacht", sagt er, aber seine Augen funkeln belustigt. „Aber lern sie auch wirklich."

„Natürlich", antworte ich mit übertriebener Unschuldsmiene und rolle dabei leicht die Augen. „Was denkst du denn von mir?"

„Nur das Beste", sagt Melcon grinsend. Wir beide lachen, und das Eis ist endgültig gebrochen.

Danach unterhalten wir uns locker über unsere Hobbys, Lieblingssachen und alles Mögliche. Es macht überraschend viel Spaß, mit ihm zu reden. Ich kann mir vorstellen, dass wir, wenn ich Melcon vor meinem Unfall mit Tim kennengelernt hätte, sicherlich gute Freunde geworden wären – vorausgesetzt, ich hätte nie erfahren, was er in seiner Freizeit macht.

Seltsamerweise bleibt das vertraute Gefühl der Traurigkeit, das mich normalerweise überkommt, wenn ich an Tim denke, dieses Mal aus. Vielleicht geht es doch schneller, seine Gefühle zu vergessen, als ich dachte. Oder liegt es an Melcon? Er sieht wirklich wunderschön aus, so wie er da im sanften Licht des Sonnenuntergangs sitzt und redet.

Moment mal – Sonnenuntergang? Wir waren doch noch vor Mittag hier! Ich ziehe schnell mein Handy aus der Tasche und schaue auf die Uhr. 20:12! Was zum Teufel?! Wie ist es so spät geworden? Ich unterbreche ihn lieber, obwohl ich ihm eigentlich noch weiter zuhören möchte. Seine Stimme ist so beruhigend, und irgendwie will ich nicht, dass das hier zu Ende geht.

Aber da war doch etwas, das ich vergessen habe... Was war es noch gleich? Wenn ich es vergessen habe, kann es wohl nicht so wichtig gewesen sein. Melcon grinst mich plötzlich an, dieses "Ich-habe-es-geschafft"-Lächeln, und ich frage mich, was er wohl damit meint.

Ich und begabt, dass kann ja nur schiefgehen (wird überarbeitet) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt