Die Jagd

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Sie war aufgetaucht. Genau wie er es vorhergesagt hatte. Noch bevor er sich zu der Hexe umdrehte, verriet ihm ein Kribbeln am Rücken ihre Anwesenheit. Die unscheinbare Warnung seines Körpers, dass er sich in Gefahr befand.

Wie erwartet versäumte sie es, auf ihn zu schießen, sodass er einen Blick auf sie zu werfen vermochte. Seine Augen waren weitaus besser als die von gewöhnlichen Menschen. Sie ermöglichten es ihm, in der Dunkelheit zu sehen. Praktisch, wenn jemand ihn umzubringen gedachte. So wie die junge Großhexe. Auf dem Vordach des gegenüberliegenden Gebäudes hockte sie, einen Pfeil zum Abschuss bereit auf ihrem gespannten Bogen. Trotz der drohenden Gefahr zwinkerte er ihr zu und lief hinaus auf die Terrasse. Statt den Augenblick zu nutzen, ergriff sie die Flucht. Zu jung für eine Attentäterin.

Nun verfolgte er sie durch die düsteren Gassen, in deren Schatten sie mit der Dunkelheit verschmolz. Mehrfach bemerkte er es zu spät, dass sie abbog, und verlor wertvolle Zeit, wodurch sie ihren Vorsprung ausbaute. Erneut warf sie sich im vollen Lauf um eine Häuserecke. Das Geräusch eines Düsenschlittens, der gestartet wurde, drang an seine Ohren. Sie entwischte ihm! Er verdoppelte seine Anstrengungen, doch es war zu spät. Sie raste auf ihrem Gefährt davon, in die Schwärze der Nacht. Der Mond kam hinter einer Wolke hervor und tauchte die Flüchtende in ein sanftes Licht. Er schien auf ihren geflochtenen Zopf, der ihr fast bis zur Mitte des Rückens reichte. Der Stolz einer jeden Oamena. Weißblonde Haare wie die Hexe von damals. Alasdair stieß einen Fluch aus. Auch damit hatte er recht behalten. Doch was nützte es ihm, wenn sie ihm durch die Lappen ging? Er benötigte einen fahrbaren Untersatz, um sie weiter zu verfolgen. Ihr Vorsprung wuchs mit jeder Sekunde, die er ihr hinterher starrte. Suchte sie im Sumpf Zuflucht, fand er sie womöglich nie.

Er kehrte auf dem Absatz um und stürmte zu dem am nächsten liegenden Stützpunkt der Stadtwache. Dort überrumpelte er eine Wache und entriss ihm dessen Speeder-Bike, mit dem er die Jagd erneut aufnahm.

Alasdair presste die Kiefer fest aufeinander. Eine zuvor ungekannte Nervosität ergriff von ihm Besitz, jagte ihm abwechselnd heiße und eisige Schauer über den Rücken. Fürchtete sein Unterbewusstsein etwa, dass die Frau ihn in eine Falle lockte? Wie ihre Ahnin vor ihr? Unfug! Das junge Ding war seiner Macht nicht gewachsen. Schon bald würde sie vor ihm knien und um Gnade winseln, um seiner Rache zu entgehen.

Er fasste die Griffe fester, beschleunigte das Fahrzeug. In einiger Entfernung sah er etwas im Mondlicht glitzern. Ihr Düsenschlitten lag achtlos im Gras am Ende des Trockenlandes. Er hielt an. Der Geruch vermodernder Blätter und abgestorbenen Holzes schwebte bereits hier in der Luft. Gase der Verwesung, des Todes, der im Sumpf auf unachtsame Besucher wartete und sie in ein zähflüssiges Grab zerrte. Doch nicht ihn. Er kannte die sicheren Pfade von damals, hatte in den vergangenen Tagen bei Erkundungen seine Erinnerung aufgefrischt. Zuversicht über sein Können kämpfte gegen das seltsame flaue Gefühl in seinem Magen an. Gegen die Ahnung, dass ihm etwas völlig Unerwartetes bevorstand. Ein neues einschneidendes Erlebnis in seinem Leben.

Einen Moment zögerte er, strich sich über den pechschwarzen Bart. Lief er erneut in eine Falle? Wozu? Es wäre für die junge Frau ein Leichtes gewesen, auf ihn zu schießen. Vor allem, als er ihr noch den Rücken zuwandte.

Eine andere Idee formte sich träge zu einem annehmbaren Szenario. Hatte sie ihn absichtlich aus der Kryokammer befreit und ihn hierhergeführt? Um ihm etwas mitzuteilen? Eine brennende Sehnsucht versetzte seinen Körper in Aufregung, lockte ihn vom festen Pfad an den Bäumen vorbei in den sumpfigen Wald. Was war das nur, das Besitz von ihm ergriff? Energisch schüttelte er den Kopf. Kein Zauber konnte ihn dazu verführen, sämtliche Vorsicht außer Acht zu lassen. Mit neu erwachtem Misstrauen schlich er vorwärts.

Alle paar Meter hielt er inne und lauschte auf Anzeichen dafür, dass sich jemand auf die Lauer gelegt hatte. Außer dem gelegentlichen Ruf eines Zuitca, einer Unterart der Käuze, und dem Rascheln kleiner Nager im Unterholz herrschte Stille. Er drang tiefer in den Sumpfwald vor. Leises Blubbern verriet die tödlichen Felder zwischen Bäumen und Pfad. Der Gestank nach verrottenden Hölzern und Pflanzenteilen war hier stärker. Dämpfe schienen von den Flächen aufzusteigen. Die feuchte Kälte kroch an seinen Beinen empor und ließ ihn erschaudern. So hatte er sich seinen Abend nicht vorgestellt. Er war davon ausgegangen, die kleine Hexe schneller zu fangen. Eine Verwünschung murmelnd schlug er den Kragen seiner Uniformjacke hoch. Sein Mantel lag in seiner Unterkunft, hätte ihn bei der Jagd nur gestört.

Er richtete seine Sinne erneut auf das Gelände, das trügerisch friedlich vor ihm lag. Wo steckte sie nur? Spekulierte sie darauf, dass er aufgab oder durch einen falschen Schritt im Sumpf versank? Den Gefallen tat er ihr nicht.

Ein Rascheln, zu laut, um von einem Nagetier zu stammen, lenkte seine Aufmerksamkeit auf ein Gebüsch hinter ihm. Versteckte sie sich dort, um ihm in den Rücken zu fallen? Er beschwor mit geübter Hand dunkle Magie hinauf. In einer fließenden Bewegung jagte er eine Druckwelle auf den Strauch zu. Ein Baum gab krachend unter der Gewalt nach. Sein Stamm zerbarst und er stürzte auf das Gestrüpp. Ein schriller Schrei verführte Alasdair zu einem Lächeln. Jetzt hatte er sie. Es gab kein Entrinnen mehr.

Schnellen Schrittes lief er zu der am Boden liegenden Gestalt, deren eines Bein unter dem Baumstamm begraben lag. Verdutzt hielt er inne. Eine junge Frau, ohne Zweifel. Doch nicht die Oamena, die er verfolgt hatte. Dunkle Haare, die ihr offen über die Schultern hingen. Bequeme reißfeste Kleidung in den Farben der Natur, kein schwarzer Stoff, wie die Hexe ihn getragen hatte. Statt Pfeil und Bogen lag ein Korb nicht weit von ihr entfernt.

„Was suchst du hier draußen? Es ist nicht sicher für Mädchen wie dich", herrschte er sie an. Sie hatte seine Chancen, die Großhexe zu fangen, endgültig zerstört. Im fahlen Licht des Mondes sah er, wie sie zusammenzuckte.

„Ich wollte doch nur Moos und einige Sumpfpflanzen für Heiltränke pflücken", gab sie flüsternd zurück.

Deutlich hörte er den Schmerz in ihrer Stimme heraus. Er seufzte verhalten und hockte sich neben sie. „Entschuldige bitte. Ich habe jemanden verfolgt. Ich hatte hier draußen um diese Uhrzeit keine Gripara erwartet." Er betrachtete den Stamm. Zu schwer, als dass er ihn allein heben könnte. Der Boden dagegen wirkte locker. „Ich werde jetzt versuchen, dich zu befreien", sprach er in einem beruhigenden Tonfall auf sie ein. Seine Wut war längst verraucht. Eine Frau seines Volkes benötigte seine Hilfe. Sanft drückte er ihre Schulter. Ein Kribbeln schoss von seiner Hand durch seinen Arm und verteilte sich vibrierend in seinem Körper.

Sie schien es ebenfalls zu spüren und drehte ihren Kopf ruckartig zu ihm. Der Mond tauchte ihr hübsches Gesicht in ein silbernes Licht. Dunkle Augen, die ihn erschreckt betrachteten.

Er lachte leise. „Keine Angst. Du hast nichts von mir zu befürchten." Er würde sie vor allen Gefahren beschützen und jeden töten, der eine Bedrohung für sie war. Denn sie war seine Seelengefährtin. Endlich hatte er sie gefunden.

In den Fängen der GripariWo Geschichten leben. Entdecke jetzt