Der perfekte Schuss

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Sorgfältig überprüfte sie die Lederriemen am Köcher, den die alte Pilotin ihr überlassen hatte. Kein Zeichen von Materialermüdung oder sonstigen Mängeln, die sie auf ihrer Mission überraschen könnten. Zufrieden zog sie eines der Geschosse heraus, das sie der Erfüllung ihres Herzenswunsches näher brachte. Voller Bewunderung strich sie über die Befiederung des ultraleichten und gleichzeitig stabilen Pfeils. Schwarze Vogelfedern, so dunkel wie der Pfeilschaft, der aus dem Holz eines Chiparu gefertigt war und in einer mit Widerhaken versehenen Spitze aus Metall endete. Schnell und unaufhaltsam würde er sich in sein Ziel bohren – in das verdorbene Herz des verhassten Vrajitors.

Bald schon würde er im Ballsaal inmitten heuchlerischer Gripari röchelnd am Boden liegen, in einer Blutlache, die sich immer weiter ausdehnte. Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. Zu schade, dass sie keine Möglichkeit erhielt, den Anblick zu genießen. Gleich nach der Tat würde sie in der Dunkelheit verschwinden und für einige Tage untertauchen, bis sich der Trubel gelegt hatte. Sein Tod würde Unruhe bei den Invasoren hervorrufen. Bei den Möchtegernherrschern, die auf den Vrajitor vertrauten und von ihm erwarteten, ganz Hayreni allein zu unterwerfen. Ihr Lächeln nahm spöttischere Züge an. Fast tat der Mann ihr leid, auf dem die Erwartungen und Hoffnungen ganz Macras lagen.

Seit drei Tagen hielt er sich in der Stadt auf oder durchkämmte die Umgebung. Völlig zwecklos, denn sie versteckte sich bei der Pilotin, deren Raumschiff in einem rostigen Hangar parkte, der jeden Moment auseinanderzufallen drohte. Kein Ort, an dem man eine Hohe Großhexe erwartete. So suchte er sie in den Gassen, in Lagerhallen und außerhalb der Stadtgrenze, falls ihm seine eigenen Leute keinen Strich durch die Rechnung machten. Sie lauerten ihm auf, verfolgten ihn auf Schritt und Tritt, wie Aasfresser, die einem Raubtier in der Hoffnung auf blutige Überbleibsel nach einer erfolgreichen Jagd folgten.

Die gedämpften Schläge der Turmuhr drangen an ihre Ohren. Das Fest im Ballsaal begann. Es war an der Zeit, dorthin aufzubrechen, um den Vrajitor ein für alle Mal zu erledigen. Schnell steckte sie den Pfeil zurück in den Köcher, schnallte sich diesen um und packte den Bogen, dessen Sehne sorgfältig gespannt war. Ein einziges Mal ließ sie die Bogensehne vibrieren, erfreute sich am Klang. Der Augenblick, die Schuld zu begleichen, war gekommen.

Sie lief zu dem schmalen Spalt, der sie von der Straße trennte und lauschte. Die Menschen dieses Viertels waren längst in ihren Häusern verschwunden, hatten Fenster und Türen aus Furcht vor dem grässlichen Wesen verriegelt. Bald würden sie wieder im Freien feiern können, wenn sie ihn vernichtet hatte.

Quendresa warf einen Blick zum Mond, der hell am Himmel stand. Sein Licht würde Rüstungen und Waffen glitzern lassen, die Schergen des dunklen Lords verraten. Dennoch mahnte sie sich zur Vorsicht. Die Wachen hatten sich in das Viertel zurückgezogen, dass die gierigen Gripari sich unter den Nagel gerissen hatten. Das Regierungsviertel mit seinen pittoresken Villen. Dort, im Herzen der Stadt, feierten sie die Rückkehr des Vrajitors, und verhöhnten jeden Oameno.

Lautlos bewegte sie sich durch die Gassen, drückte sich an Häuserwände oder duckte sich hinter niedrige Mauern, sowie sie ein verdächtiges Geräusch vernahm. Immer näher rückte sie an ihr Ziel heran. Tanzmusik, erst leise, dann unerträglich laut und aufdringlich, schallte aus den offenstehenden Fenstern, zurückgeworfen von den umliegenden Gebäuden.

Missmutig verzog sie das Gesicht. Ein weiterer Affront der Besetzer, störten sie die Nachtruhe eines jeden ehrbaren Bürgers. Doch auch dies würde schon bald ein Ende haben. Prüfend schaute sie sich um. Die Kisten, die sie beim Auskundschaften an einer Fassade gegenüber des Saales entdeckt hatten, standen zu ihrer Erleichterung noch immer am selben Platz. Schnell kletterte sie hinauf auf das Vordach, von dem sie einen ausgezeichneten Überblick hatte. Von dort aus beobachtete sie das Treiben im völlig überfüllten Ballsaal. Frauen der Gripari warfen sich dem hochgewachsenen, in Schwarz gekleideten Mann an den Hals. Sprichwörtlich. Quendresa unterdrückte ein Würgen. Sie verstand nicht, was jemanden dazu veranlasste, ein Monster wie ihn zu begehren und um seine Gunst zu buhlen.

„Wer da?" Eine aufgebrachte Männerstimme erklang fast gerade unter der Stelle, an der sie sich versteckte.

Sie duckte sich lautlos auf die Dachziegel. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Hatte man sie entdeckt? Für einen Moment vernahm sie nichts. Sie wagte es kaum, Luft zu holen. Zornige Schreie, Verwünschungen lösten die Stille ab.

„Da haben wir den Übeltäter." Ein zweiter Mann lachte heiser. „Du dachtest wohl, du könntest dich anschleichen. Nehmt ihm die Waffen ab und sperrt ihn in eine Zelle. Der Lord wird sich über unseren Fang freuen."

„Der Vrajitor hätte besser auf Macra bleiben sollen. Kein Oameno wird je ruhen, bis das Monster nicht zur Strecke gebracht wurde", schrie ein Junge, der kaum volljährig zu sein schien.

„Halt dein Maul", herrschte ihn der erste Mann an, den Quendresa gehört hatte.

Ein dumpfer Schlag, ein Ächzen. Dann hörte sie, wie etwas über die Pflastersteine geschliffen wurde.

„Nehmt wieder eure Positionen ein. Nicht, dass noch mehr Gesindel sich an die Herrschaften heranschleichen will."

Erneut kehrte Ruhe ein. Quendresas Puls beruhigte sich, nachdem sie nichts mehr außer der Musik hörte. Sie sah den Vrajitor deutlich im Raum stehen. Die Schusslinie durch ein offenes Fenster wurde durch nicht behindert. Schnell zog sie einen Pfeil aus dem Köcher und nockte ihn ein. Der Mann wandte ihr den breiten Rücken zu, unterhielt sich mit einem der Gäste. Nicht einen Zentimeter bewegte er sich. Die Statue eines Monsters aus Fleisch und Blut, regungslos verharrend. Ein perfekter Schuss, trotz des überfüllten Ballsaales. Sie nahm einen tiefen beruhigenden Atemzug und spannte die Bogensehne. Bereit, den Pfeil fliegen zu lassen, damit er ihr Volk endlich von der Bedrohung befreite. Gleich war es so weit.

Sie visierte ihr Ziel an und verharrte in der Bewegung. Der Vrajitor drehte sich um, als ob er bemerkte, dass sie auf ihn zielte. Er hob den Blick, schien ihr direkt in die Augen zu starren. Trotz der Dunkelheit, die sie einhüllte und vor den Feinden verbarg. Wusste er, dass sie hier oben lauerte und seinen Tod plante? Sie wagte es nicht, sich zu rühren. Gleich darauf zweifelte sie an ihren Sinnen. Der Mann zwinkerte ihr auffällig langsam zu. Dann bahnte er sich einen Weg durch die Feiernden nach draußen auf die Terrasse. Sein Blick war weiterhin auf sie geheftet. Wieso rief er keine Verstärkung? Vertraute er so auf sein Können?

Quendresa gab sich einen Ruck und kletterte vom Dach. So schnell ihre Beine sie trugen, flüchtete sie durch die Gassen, bis sie gegen einen Düsenschlitten prallte, den sein achtloser Besitzer nicht weggeschlossen hatte. Sie sprang auf den Sitz, startete den Motor und jagte aus der Stadt in die Nacht hinaus. Weg von den Gebäuden und dem Vrajitor, zum Sumpf, dessen Dämpfe jedes mit Anti-Schwerkraft-Antrieb ausgestatteten Fahrzeugs außer Kraft setzten. Doch gegen das Monster bräuchte sie schwerere Geschütze. Wieso hatte sie nur gezögert und den perfekten Augenblick vorbeiziehen lassen? Jetzt war sie wieder die Gejagte. Die Beute eines Mannes, der kein Erbarmen kannte.

In den Fängen der GripariWo Geschichten leben. Entdecke jetzt