Der Bluttest

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Die wenigen Verletzungen, die sie nicht selbst geheilt hatte, kribbelten unter dem Einwirken der Salbe. Ein deutliches Zeichen, dass die Heilung einsetzte. Erneut dankte sie der Vorsehung dafür, dass der Vrajitor ihren Beinbruch nicht bemerkt hatte. So würde sie schneller in der Lage sein, vor ihm zu fliehen. Sie vertraute dem Mann nicht, obgleich er sich ihr gegenüber äußerst höflich benommen hatte. Wenn man großzügig darüber hinwegsah, dass er sie verletzt und in dem Schreckmoment angeschnauzt hatte.

Quendresa knabberte nachdenklich an ihrer Lippe. Vor wenigen Augenblicken hatte er sie in dem kargen Raum zurückgelassen. Um Kleidung für sie zu organisieren. Fröstelnd zog sie die Decke, die er ihr umgelegt hatte, enger um ihre Schultern. Seine Höflichkeit stellte sie vor ein Rätsel. War es einzig dem Fakt geschuldet, dass sie seine Seelengefährtin war? Die Erleichterung, als er gehört hatte, dass sie nur leicht verletzt war – das klang nicht gespielt. Er ahnte nicht einmal im Ansatz, wen er vor sich hatte. Seine Erzfeindin, die wenige Stunden zuvor versucht hatte, ihn hinterrücks zu erschießen. Sie schlug die Hände vors Gesicht. Wieso schämte sie sich dafür, dass sie auf ihn gezielt hatte, und nicht dafür, dass sie in nicht getötet hatte? Wie einfach war ihr Leben gewesen, als sie die Seelenverwandtschaft der Gripari für einen Mythos hielt!

„Das habe ich diesem Taugenichts von Vater zu verdanken", knurrte sie. Diese verflixten griparischen Gene! Wie sollte sie ihr Volk schützen, wenn ihr eigener Körper sie an der Ausführung einer simplen Mission hinderte? Der Gedanke, ihn in eine Falle zu locken, missfiel ihr. Sie hatte ihn aus der Kryokammer befreit, also war es ihre Pflicht, ihn endgültig zu beseitigen. Nur wie? Sie seufzte verhalten, just in dem Moment, als die Tür aufglitt.

„Ist alles in Ordnung? Tut dir etwas weh?" Der Vrajitor eilte an ihre Seite und sah sie besorgt an. Seine Miene spiegelte ungewöhnlich viel Verletzlichkeit wider. Vor allem angesichts der Tatsache, dass er sämtliche Großhexer erbarmungslos gejagt hatte.

Sie runzelte die Stirn. Nicht alle, korrigierte sie sich in Gedanken. Einige Todesfälle gingen nicht auf sein Konto. Denn zu dem Zeitpunkt ruhte er längst unschädlich im Kryoschlaf. Sie hatte bisher nicht in Erfahrung gebracht, wer stattdessen hinter den Verlusten steckte. Ein beunruhigendes Gefühl, seinen Feind nicht zu kennen. Dafür erhielt sie nun die Möglichkeit, einen anderen Gegner näher kennenzulernen. Der Gedanke ließ sie frösteln. Jemand strich ihr sanft über die Wange. Sie hob den Blick. Erneut war ausgerechnet ER es, der sie besorgt musterte.

„Nun sag schon, was ist mit dir? Habe ich den Heiler zu früh weggeschickt?" Er wandte sich zur Tür, drehte sich dort zu ihr um. „Leider stehen mir auf Hayreni keine exquisiten Ärzte zur Verfügung, sondern nur Quacksalber wie er. Sicher hat er etwas übersehen, das dir Schmerzen bereitet. Ich hole ihn zurück."

„Lass nur." Sie wandte sich ihm zu. „Kannst du mir bitte die Kleidung geben? Mir ist nur kalt." Sie wies auf das Bündel Stoff, das er in einer Hand hielt.

„Wie dumm von mir." Mit wenigen Schritten stand er neben ihr. „Entschuldige bitte. Ich kann es noch immer nicht glauben, dass ich dich endlich gefunden habe. Ich hatte die Hoffnung vor langer Zeit aufgegeben."

Quendresa erwiderte seinen Blick. In den Augen des Vrajitors schimmerte es verdächtig. So verletzlich, wie er sich gab, erschien er ihr noch unheimlicher als in ihrer Kindheit – in den Momenten als sie den Schauergeschichten über ihn und seine Taten lauschte. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihrem gesamten Körper aus. Er, das personifizierte Böse, zeigte sich ihr von einer anderen Seite.

„Hier, zieh dich an, dann bringe ich dich in einen angemesseneren Raum." Er reichte ihr die Kleidung und drehte sich um.

Sie schluckte, starrte einen Augenblick gedankenverloren auf sein breites Kreuz. Sein zuvorkommendes Verhalten würde ihn nicht retten. Nicht, wenn sein Tod die Wiedererlangung von Frieden für ihr Volk bedeutete. Schnell streifte sie Hose und Hemd über, tippte dem Mann dann auf den Rücken.

„Bist du bereit?" Sein Blick lag wohlwollend auf ihr. „Wenn du es mir erlaubst, werde ich dich jetzt tragen." Er streckte seine Arme aus, bis er sie fast berührte, und verharrte in dieser Position.

Er wartete auf ihre Zustimmung, erkannte sie schluckend. Zögernd nickte sie, um seine Geduld nicht zu strapazieren. Gleich darauf hob er sie hoch und drückte sie an seine breite Brust.

Die Tür glitt zur Seite, ein junger Soldat trat ein. „Mein Lord, es gibt da Komplikationen, über die ich mit Ihnen reden sollte." Er warf einen misstrauischen Blick auf Quendresa. Sie zwang sich zu einer gleichmäßigen Atmung. Hatte der Griparo etwas entdeckt, das ihr schadete? Sie brachte eine Hand an den Hals des Vrajitors. Sein Puls beschleunigte sich.

Der Mann atmete tief durch. „Was gibt es so Wichtiges, dass Ihr mich stört?", knurrte er den Störenfried an.

„Die Frau, die Ihr in Euren Armen haltet ..." Der Soldat wich einen Schritt zurück, straffte dann erneut seinen Rücken. „Wir haben keine Daten über ihre Geburt, ihr Leben oder darüber, wer ihre Eltern sind."

„Und jetzt wollt Ihr mir unterstellen, dass ich eine Feindin hergebracht habe?" Seine Stimme war schneidend scharf. Seine Kiefermuskeln spannten unter der Haut. Der Vrajitor ließ Quendresa runter. „Verzeihe bitte die Verzögerung", fügte er deutlich sanfter an sie gerichtet hinzu, bevor er sich erneut an den Armeeangehörigen wandte. „Das System war früher schon fehlerhaft. Wurden nicht für einige Jahre Oameni als Helfer in den Ämtern eingesetzt? Vermutlich haben die sich einen Spaß erlaubt und Eintragungen nicht vorgenommen oder mutwillig gelöscht, um uns zu verwirren."

„Aber was, wenn sie die verschwundene Großhexe ist, die einen Wandlungszauber benutzt?" Der Soldat trat von einem Fuß auf den anderen.

Quendresa lehnte sich an den Vrajitor. Sie hoffte, ihn mit ihrer Nähe von dem Gedanken abzubringen, auf den der fremde Griparo ihn gebracht hatte.

„Das lässt sich leicht herausfinden." Der Mann hob sie hoch und trug sie zurück auf die Liege. Kurz schaute er sich suchend im Raum um, bis sein Blick auf einem Schrank hängenblieb. Aus diesem holte er einen kleinen schwarzen Gegenstand, dessen Bildschirm grün aufleuchtete, als er das Gerät einschaltete.

Quendresa atmete tief durch. Jetzt war das Spiel aus. Resignierend steckte sie einen Zeigefinger in die Öffnung. Ein kurzer Stich in ihre Fingerkuppe, ein heller Ton, der das Ergebnis mitteilte. Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Jetzt wusste er, dass sie seine Feindin war, und tötete sie. Wieso fürchtete sie sich davor? Sie senkte den Kopf. Nein, keine Angst. Eher ein tiefes Bedauern. Verwirrt runzelte sie die Stirn. Der Vrajitor bedeutete ihr etwas, durch das Band der Gefährten.

„Hier, sie ist eindeutig eine Gripara." Er hielt dem Soldaten das Gerät hin. „Und jetzt raus hier", zischte er dem Mann zu.

„Ich bitte Euch untertänigst um Verzeihung, mein Lord." Er verneigte sich, flüchtete dann aus dem Raum, ohne sich auch nur umzusehen.

Der Apparat piepte ein zweites Mal. „Na sieh mal einer an." Der Vrajitor hob den Blick vom Bildschirm, bevor er den Bluttester einsteckte. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen. „Dann bringe ich dich jetzt in unser Zimmer. Ich lasse uns etwas zu essen bringen. Du hast bestimmt Hunger." Sanft hob er sie erneut hoch und drückte sie an seine Brust.

Tausende Gedanken schossen Quendresa durch den Kopf. Was hatte der Test ergeben und wieso versetzte es ihren Erzfeind in solch eine Hochstimmung, dass er leise vor sich hin summte, als er sie durch das Gebäude trug. In ihrer Verwirrung achtete sie nicht auf den Weg. Wozu auch? Er würde sie sowieso nicht mehr gehen lassen.

In den Fängen der GripariWo Geschichten leben. Entdecke jetzt