Der Sumpf

92 14 0
                                    


Misstrauisch ließ er den Blick über das Gelände schweifen. Zwar verirrte sich selten jemand in den Sumpf, der südlich der Hauptstadt lag, doch seit der Zerstörung des Konvois vermutete er Feinde überall. Er unterdrückte ein Seufzen. Wenigstens hatte seine Gefährtin sich nach dem Angriff ihm zugewandt und schaute ihn nicht mehr an, als ob er ein seelenloses blutrünstiges Monster wäre. Dennoch sorgte sie dafür, dass sie ihn nicht öfter als notwendig berührte.

Er strich auf Brusthöhe über seinen schwarzen Mantel. Versteckt unter dem dichten Stoff steckte das Buch. Sollte er sie weiterlesen lassen? Als Zeichen seines guten Willens? Einerseits hatte es geholfen, das Eis zu brechen. Andererseits enthielt es eine genaue Auflistung der Gräueltaten, die er an ihrem Volk und vor allem an den Großhexen begangen hatte. Wenn sie das las, würde sie ihn erneut verachten.

„Verschleppst du mich in diesen Sumpf, weil du mich in einem gefunden hast?" Quendresa hielt an, betrachtete voller Neugierde niedrig wachsendes Sumpfkraut. Widerstandsfähiges, kleinblättriges Grün, das an Farne erinnerte. Mit sternförmigen gelben Blüten.

„Vor vielen hundert Jahren hat man die Blumen für einen stärkenden Tee verwendet. Das getrocknete und zerstoßene Kraut wurde mit Fett zu einer Salbe verrührt, die die Wundheilung beschleunigt." Er wies auf die Pflanze, die die meisten seines Volkes nur noch als Unkraut bezeichneten.

„Und dann haben die Gripari herausgefunden, dass es auf Hayreni Großhexer gab, die in der Lage waren, Verletzungen durch Magie zu heilen. Ein Plan, ihrer habhaft zu werden, wurde geschmiedet. Der Rest ist Geschichte. Richtig?" Quendresa schüttelte traurig den Kopf.

„Das war nicht der Grund für den Angriff. Aber lass uns über etwas anderes reden." Er wies auf Fläche, die trügerisch still dalag. „Die solltest du niemals betreten. Das ist kein fester Boden. Kaum, dass man sie betritt, sinkt man ein."

„Du hast mich wohl kaum hierher geführt, um mir etwas über die Natur zu erzählen." Seine Gefährtin wandte sich ihm zu. „Fürchtet du, dass uns jemand in den Sumpf folgt?"

„Wie kommst du darauf?" Er strich seinen Mantel glatt und erwiderte gelassen ihren Blick. Innerlich zitterte er vor Anspannung.

„Du schaust dich seit unserem Aufbruch immer mal wieder um, wenn du glaubst, dass ich abgelenkt bin. Wenn du ein Geräusch hörst, ballst du die Hände zu Fäusten." Sie trat auf ihn zu, sah ihm ohne Scheu in die Augen.

Er bewegte die Finger, wie um etwas zu greifen. Nahm er sich jetzt das, wonach er verlangte, würde er seine Gefährtin nur von sich stoßen. Erleichtert atmete er aus, als sie ihm die Entscheidung abnahm und sich umdrehte, um erneut die Pflanzenwelt zu inspizieren. Gedankenverloren schaute er ihr hinterher, als sie weiter in den Sumpf hineinlief. Besonnen, ohne Hast, bewegte sie sich einer Tänzerin gleich über den tückischen Untergrund. Wieso schaffte sie es nur, aus einem starken Einzelgänger wie ihm einen Schwächling zu machen, dem die Knie einknickten, wenn er vor einer Frau stand? Er würde zum Gespött seines Volkes werden, wenn er das nicht unter Kontrolle bekam. Alles in ihm drängte ihn, ihr nachzurennen und sie in seine Arme zu schließen. Stattdessen starrte er ihr wie festgewachsen hinterher. Wie bewegte er sie zum Umkehren? Dazu, ihn erneut anzusehen?

„Die Waffe, die die Oameni gebaut und die mit meiner Hilfe zerstört wurde", er seufzte leicht, als Quendresa sich umdrehte. „Ich habe die Baupläne mit nach Macra genommen. Einzig Gripari können die neue Waffe gebaut haben, die für den Angriff auf den Konvoi genutzt wurde."

Sie öffnete den Mund, wie um etwas auf seine Beichte zu erwidern, doch kein Ton kam über ihre Lippen. Möglicherweise fragte sie sich, was er ihr noch alles verheimlicht hatte. Vieles. Vor allem die Geschichte mit ihrer Mutter und was es für ihr weiteres Leben bedeutete. Doch bevor er es ihr erzählte, musste er alle Gefahren beseitigen. Daran führte kein Weg vorbei.

Ein Knacken erregte seine Aufmerksamkeit. Quendresa vernahm es ebenfalls und blieb an Ort und Stelle stehen. Den Kopf leicht geneigt, lauschte sie nach weiteren Geräuschen. Knistern, anfangs leise, dann stetig lauter werdend. Alasdair horchte allem zunehmend besorgt. Ein unheilverkündendes Kribbeln zog über die Länge seines Rückens. Seine Gefährtin befand sich in Gefahr. „Duck dich!", rief er ihr zu. Mit einer geschickten Handbewegung stieß er dem drohenden Unheil eine Druckwelle entgegen, die über Quendresa hinwegfegte. Der Stamm, der sich bedrohlich über sie geneigt hatte, brach mit einem Krachen durch. Die Wucht schleuderte ihn tiefer in den Sumpf hinein, wo er langsam im Morast versank. Aus dem Augenwinkel sah Alasdair, wie etwas Schwarzes aus der Baumkrone herausgeschleudert wurde und auf einem festen Stück Erde hinter dem Sumpffeld liegenblieb.

Dem kein weiteres Interesse schenkend, eilte er zu seiner Gefährtin und half ihr beim Aufstehen. „Hast du dich verletzt?"

„Nein, geht schon." Sie klopfte sich den Dreck von der Kleidung. „Danke. Du hast schnell reagiert." Dankbar lächelte sie ihn an.

Sein Herz hüpfte vor Freude. „Ich würde es mir nie verzeihen, wenn dir etwas geschähe." Er würde kein zweites Mal versagen. Erwartungsvoll hielt er ihr die Hand hin. Sein Blick fiel auf ihre Lippen. Akzeptierte Quendresa jetzt seine Berührung, würde er sich das holen, wonach er verlangte. Dass sie den ersten Schritt unternahm, darauf konnte er lange warten. So weit reichte seine Geduld nicht.

Zaghaft streckte sie ihm ihre Hand entgegen. Die Fingerspitzen berührten einander fast, als sie sich abrupt abwandte. „Was war das?"

Jetzt hörte er es auch. Ein klägliches, langgezogenes Maunzen. Sein Blick glitt zu dem kleinen schwarzen Etwas, das aus der Baumkrone gefallen war. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als er erkannte, welches Tier verletzt dalag. Er ließ Quendresa wortlos stehen und lief zu dem zitternden Körper. Eine Hrerecatte. Verdammt. Alasdair raufte sich die Haare. Flederkatzen waren selten. Ihre Scheuheit sorgte dafür, dass die meisten Menschen in ihrem Leben nie eine zu sehen bekamen. Und nun musste er ein Exemplar töten, weil es nie wieder in der Lage sein würde zu fliegen. Ein Flügel gebrochen, in der feinen Membran des anderen ein Loch.

Er ließ sich auf ein Knie nieder. Vorsichtig hob er das Tier hoch, um ihm nicht noch mehr Qualen zu bereiten. Rasiermesserscharfe Zähne bohrten sich tief in seinen Daumen. „Komm, lass los, Kleines. Dann bereite ich deinen Schmerzen ein Ende", redete er sanft auf die verängstige Flederkatze ein.

„Du willst sie töten?" Quendresa hockte sich neben ihn. Sie stoppte seine andere Hand, mit der er das Genick des Tieres brechen wollte.

„Was soll ich sonst tun? Ihre Verwundungen sind zu schwer, um wieder zu heilen. Ein Weiterleben wäre für sie eine Qual." Er versuchte, sich aus dem unerwartet eisernen Griff seiner Gefährtin zu befreien.

„Dann halte sie fest und überlasse mir die Arbeit." Geschickt zog sie den gebrochenen Flügel in die Länge. Einige Worte in der alten Sprache der Großhexer murmelnd, fuhr sie die zarten Knochen mit den Fingerspitzen nach. Dann legte sie eine Hand über das Loch in der Flugmembran.

Bewundernd stieß er einen Pfiff aus. Tränen traten in seine Augen, als er sah, dass alles verheilt war, und das Tier probeweise mit den Flügeln schlug, bevor es sich mit einem letzten Maunzen in die Luft erhob. „Du bist eine Heilerin. Du kannst dir nicht vorstellen, wie gern ich deine Gabe hätte." Er senkte den Kopf. „Außer Töten und Zerstörung beherrsche ich nichts." So war es immer gewesen. Von Kindesbeinen an hatte man ihm beigebracht, wie er seine Fähigkeiten einsetzte, um anderen zu schaden. Es war ein Teil von ihm, der ihn auf all seinen Wegen begleitete. „Lass uns umkehren", brummte er. Die Zweisamkeit, die er gesucht hatte, wurde von den uralten Lehren überschattet. Von der bitteren Erkenntnis, dass er Hochverrat beging, indem er die Identität seiner Gefährtin geheim hielt.

Sie ergriff seine Hand, strich über seinen verletzten Daumen. Die Einstichlöcher verschwanden. Alasdair schmunzelte. Noch mehr, als Quendresa ihre Finger mit seinen verschränkte. Diese Frau war es wert, die alten Regeln zu brechen oder zumindest zu biegen. Zusammen liefen sie zurück zu der Stelle, wo sie ihr Fahrzeug zurückgelassen hatten. Als sie es erreichten, raste etwas über ihre Köpfe hinweg, kehrte in einem Bogen um und setzte sich auf seine Schulter. Schnurrhaare kitzelten sein Ohr. Sein Schmunzeln wandelte sich zu einem zufriedenen Lächeln. Wie es schien, hatte er an diesem Tag nicht nur das Herz eines scheuen Wesens gewonnen.

In den Fängen der GripariWo Geschichten leben. Entdecke jetzt