Der Seelengefährte

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Quendresa stieß einen leisen Fluch aus, sowie der Vrajitor den Raum verlassen hatte, um das gesamte Gebäude für einen Heiler zusammenzuschreien. Das Täuschungsmanöver war gründlich schiefgegangen. Jetzt hielt er sie zu allem Überfluss für eine Gripara. Einzig, weil ihre Augen und ihre Haarfarbe denen seines Volkes entsprachen. Sie hatte es ihrem Vater zu verdanken, dass ihre Haare nicht weißblond und ihre Iriden nicht strahlendblau waren. Einem der drei Männer, die sich ihrer Mutter aufgezwungen hatten. Sie knurrte verhalten und ließ ihre Gedanken zurück zu den Augenblicken im Sumpf wandern, bevor er sie aufgespürt hatte.

*****

Die Dunkelheit zu ihrem Vorteil nutzend, bewegte sie sich lautlos durch den Wald. Von den sumpfigen Feldern stiegen faulig riechende Gase auf. Sumpfblumen zerplatzten mit leisem Ploppen. Unscheinbar für die Gefahr, die von den bei Tageslicht stabil aussehenden spärlich bewachsenen Flächen ausging. Doch nur ein Tor oder jemand, der das Gebiet kannte, würde ihr in der Nacht hierher folgen. Sie verfasste ein stummes Stoßgebet, dass der Vrajitor zur ersten Sorte gehörte.

Immer tiefer führte sie der Pfad in den Wald. Nur an wenigen Stellen schien der Mond durch das dichte Blätterdach und tauchte die Landschaft in ein gespenstiges Licht. Quendresa lächelte. Eine unwirtliche Gegend, die selbst arrogante Gripari abschreckte. Sie hielt inne, um zu lauschen. Bisher verriet nichts, dass ER ihr folgte. Kein dumpfer Widerhall von schweren Stiefeln auf dem weichen Boden. Kein verräterisches Rascheln der Zweige, die er streifte. Noch blieb ihr etwas Zeit, um sich vorzubereiten.

Sie eilte weiter, bis sie vor einem Baumstamm stehenblieb, der hoch hinauf ragte. Seine kahlen Äste im Dunkel der Nacht zu erahnen, sein ausgehöhltes Inneres vor Blick geschützt. Sie atmete tief durch, vollführte die flüssigen Handbewegungen der Großhexer. Ein Loch öffnete sich im Stamm. Verkohlte Ränder, angefressen vom Feuer, das nach einem Blitzeinschlag in ihm gewütet und einzig eine leere Hülle zurückgelassen hatte. Eines Tages würden die Wurzeln des einst majestätischen Baumes nachgeben und ihn in ein Sumpffeld stürzen lassen. Doch noch war es nicht so weit.

Quendresa tastete in dem schwarzen Loch nach dem Korb, den sie dort wenige Stunden zuvor versteckt hatte. Ihre Finger schlossen sich um den geflochtenen Griff aus den Zweigen des Salix. Geübt zog sie den Erntekorb heraus. Obenauf lag fein säuberlich Bekleidung der ärmeren Gripari, die im Gegensatz zu den Reichen, die sie im Ballsaal gesehen hatte, für ihr Überleben arbeiteten. Sie streifte Hose und Shirt ab, schlüpfte mit Todesverachtung in die Kleidung des Feindes. Ihre eigene faltete sie ordentlich zusammen und legte sie zusammen mit ihrem Köcher und dem Bogen in den Baum, den sie mit einer geübten Bewegung ihrer Hand verschloss. Dann atmete sie tief durch und konzentrierte sich auf die Verwandlung. Der Trugzauber, den sie verwendet hatte, löste sich genauso schnell auf, wie sie ihren geflochtenen Zopf öffnete. Mit den Fingern zupfte sie ihren dunklen Schopf zurecht, als das dumpfe Geräusch von Stiefeln an ihr Ohr drangen. Sie packte den Korb und verschwand in einem Gebüsch nur wenige Meter weiter.

Nicht zu früh, denn schon tauchte eine hochgewachsene Gestalt zwischen den Bäumen auf. Der Vrajitor! Er hielt einige Schritte entfernt an und schien seine Sinne nach ihr auszustrecken. Sie wagte es kaum, zu atmen. Was, wenn ihr Plan misslang und er sie nicht nur aufgriff, sondern sie trotz des veränderten Aussehens erkannte? Gönnte er ihr einen schnellen Tod oder quälte er sie langsam, bis der letzte Atemzug sie verließ? Fast noch schlimmer erschien es ihr, wenn er sie gefangen nahm und als einzig verbliebene Hohe Großhexe zur Schau stellte. Ein Szenario, das ihr mehr Angst einjagte als die anderen. Übelkeit stieg ihren Hals empor. Neue Selbstzweifel quälten sie. Wieso hatte sie ihn nicht getötet, als er ihr den Rücken zukehrte? Er war der verhasste General ihres Feindes. Es sollte ihr eine Freude bereiten, seinem Leben ein Ende zu setzen. Und doch weigerte ihr Körper sich, zu gehorchen. Genauso, wie er gezögert hatte. Statt seine Wachen zu rufen, gab er ihr die Möglichkeit zur Flucht. Welch grausames Spiel spielte er?

Sie kroch rückwärts, fort von diesem Monster, und stieß gegen einen Zweig. Gleich darauf brauste eine Druckwelle über sie hinweg. Die Bäume ächzten. Ein Krachen folgte. Splitter rieselten auf sie herab. Sie hob zum Schutz ihre Arme, damit die Spitzen ihr nicht das Gesicht zerschnitten. Etwas Dunkles stürzte auf sie zu. Ein Baumstamm, der ihr Bein unter sich begrub. Vor Schmerz schrie sie auf.

Der Vrajitor herrschte sie an, dann hockte er sich neben sie, wie um sie beruhigen zu wollen. Ihre Tarnung war nicht aufgeflogen. Sanft drückte er ihre Schulter, schickte ein angenehmes Kribbeln durch ihren Körper. Entsetzt richtete sie ihren Blick auf ihn. Das war schlimmer als alles, was sie sich vorgestellt hatte. Ausgerechnet sie war die Seelengefährtin des Monsters, das ihr Volk zu vernichten drohte.

*****

Quendresa schnaubte ungehalten. Fast schon zärtlich hatte er sie behandelt, sie zurück in die Stadt gebracht, wo sie in einem Raum auf einen Heiler wartete. Er würde nicht viel feststellen. Sie drehte den Kopf zur Tür, lauschte auf Schritte. Irgendwo in weiter Ferne hörte sie den Vrajitor herumschreien. Ihm jetzt in die Quere zu kommen, könnte mit dem Tod enden. Sie seufzte und legte beide Hände vorsichtig auf ihr Bein. Zu ihrer Erleichterung verfügte der General nicht über Wissen in der Heilkunde, sonst hätte er längst festgestellt, dass der Knochen gebrochen war. Sie schloss die Augen, beschleunigte die Heilung. Zu schade, dass ihre magischen Fähigkeiten niemandem Schaden zufügen konnten. Wie viel leichter wäre es, jemanden mit Hilfe der Magie zu töten!

Ein Poltern auf dem Flur schreckte sie auf. Jemand stieß erst die Tür auf, dann einen jungen zitternden Mann hinein.

„Kümmere dich um ihre Verletzungen", knurrte der Vrajitor. Mit wenigen Schritten stand er an Quendresas Seite und wachte über jede Bewegung des völlig verängstigten Heilers, der mit bebenden Fingern ihr Bein abtastete.

„Gebrochen scheint es mir nicht zu sein, nur geprellt. Der weiche Untergrund hat sie vor einer schwereren Verletzung bewahrt."

Wenn der wüsste. Sie ließ sich zurück auf das Kissen sacken und schloss die Augen, die sie sogleich wieder aufriss, als sie die nächsten Worte hörte.

„Ich müsste ihr jetzt nur noch die Splitter entfernen. Dafür müssen wir sie erst ausziehen", merkte der Heiler mit zitternder Stimme an.

„Raus! Ich kümmere mich selbst darum." Der Vrajitor nahm dem erblassten Mann eine Tube und ein seltsames schwarzes Gerät ab. Sowie die Tür sich schloss, wandte er sich mit sanfterer Stimme an sie. „Bitte erlaube mir, dass ich deine Kleidung entferne, damit ich dich verarzten kann. Ich möchte nicht, dass sich eine Wunde entzündet."

Quendresa nickte nur stumm. Seine Nähe wirkte gleichermaßen beruhigend und beunruhigend auf sie. Einerseits wünschte sie ihn zurück in den Sumpf oder in die Kryokammer im Dschungel von Macra. Andererseits zeigte er ihr mit seiner Sanftheit eine Seite, die sie niemals bei ihm erwartet hätte, und gab ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Selbst als er sie auszog, ging er behutsam vor, um ihr keine Schmerzen zuzufügen, und vergewisserte sich mehrfach, dass sie der Behandlung zustimmte. Mit dem kleinen Apparat fuhr er über ihren Oberkörper und ihre Arme, in denen unzählige Splitter steckten. Es ziepte jeweils kurz, wenn die winzigen Zangen einen herauszogen.

„Bitte verzeih mir, dass ich dich verletzt habe. Ich war nicht auf der Jagd nach dir, sondern einer Frau, die versucht hatte, mich zu töten." Er hob den Blick, schaute sie bittend aus seinen tiefdunklen Augen an. Seine Hand ruhte dabei auf ihrer Hüfte, wärmte ihre kühle Haut. Eine weitere unerwartete sanfte Geste, bevor er auch ihre Oberschenkel von den Splittern befreite. Hochkonzentriert, damit er keinen verpasste.

„Endlich habe ich dich gefunden", hörte sie ihn erneut sprechen, als er die Salbe auf jeden noch so kleinen Kratzer aufbrachte. „Nicht einmal eine Hohe Großhexe wird uns trennen können. Ich werde dich vor allen Gefahren beschützen."

Sie schwieg beharrlich. Wenn er erfuhr, wer sie war, würde sich seine Begeisterung ganz von selbst legen. Ihr graute vor dem Moment, denn sie würde nicht in der Lage sein, ihren Seelengefährten zu töten. Was für ein grausamer Scherz des Universums, sie ausgerechnet an diesen Mann zu binden!

In den Fängen der GripariWo Geschichten leben. Entdecke jetzt