Quen streichelte geistesabwesend das kleine schwarze Tier, das zufrieden schnurrend neben ihr auf dem Kissen lag, das der Bibliothekar ihr gegeben hatte. Neben den Büchern, die Alasdair ihr empfohlen hatte. Während er sich mit den Beratern des Königs unterhielt, war es ihre Aufgabe, etwas über die politischen Entwicklungen der vergangenen einhundert Jahre herauszufinden. Zu ihrer Enttäuschung entpuppte sich die Faktenlage als dürftig. Sie tippte mit einem Zeigefinger auf die Tischplatte. War es Zufall, dass auf einem hochentwickelten Planeten wie Macra keine Aufzeichnungen über die Königsfamilie zu finden waren? Etwas an der Sache missfiel ihr.
„Mau?" Die Flederkatze schaute fragend zu ihr, stupste dann mit ihrer schwarzen Nase Quens Hand an.
„Na sieh mal einer an. Jetzt erkennst du plötzlich meine Existenz an. Nur weil ich aufgehört habe, dich zu streicheln." Quendresa kraulte das Tier unterm Kinn. Ein tiefes Schnurren war die Antwort. „Ich könnte wetten, dass du jetzt lieber bei Alasdair wärst."
Das Tier bevorzugte den Mann, obwohl er es hatte töten wollen. Zwar aus Mitleid und der tiefsten Überzeugung, dass ein Weiterleben eine Qual bedeutete, doch änderte es nichts an seinem ursprünglichen Plan. Aria interessierte das herzlich wenig. Sowie die Hrerecatte Alasdair entdeckte, flatterte sie zu ihm und schmiegte sich an. Sie gab ihm die Nähe und Zuneigung, die Quen ihm verweigerte, stellte diese schmunzelnd fest. Es fiel ihr noch immer schwer, ihren ehemaligen Erzfeind – den Terror aus den Albträumen ihrer Kindheit – vollständig als ihren Gefährten anzusehen. Vor allem, weil er ihr etwas verheimlichte. Sie bemerkte es an seinen verstohlenen Blicken und dem gelegentlichen Zögern, wenn er mit ihr sprach. Immer abwägend, was er mit ihr teilen konnte. Alte Gewohnheiten starben nur langsam, sowohl bei ihr als auch bei ihm.
Sie schüttelte energisch den Kopf. Sie war nicht in die Bibliothek gekommen, um ihre Beziehung zum General zu überdenken. Dafür war später Zeit, wenn sie die drohende Zerstörung abgewendet hatten. Falls sie es schafften. Seit der Vernichtung des Konvois flammten überall in der Galaxie Kämpfe auf. Der Krieg war endgültig aus seinem einhundertjährigen Dornröschenschlaf erwacht und forderte mehr Todesopfer als je zuvor auf beiden Seiten.
Quen zog das nächste Buch zu sich heran. Alasdair war felsenfest davon überzeugt, dass es hier Hinweise zu finden gab, und sie würde nichts unversucht lassen, um ihr Volk zu retten. Selbst wenn die Mittel dazu ihr wie in diesem Moment lächerlich vorkamen.
„Vielleicht hilft Euch das hier weiter." Der Bibliothekar hielt mit einem Bücherwagen neben ihr und schob ein in Leder eingebundenes Büchlein über die Tischplatte. Verschmitzt zwinkerte er ihr zu, bevor er sich erneut seiner Arbeit widmete.
Voller Neugierde nahm sie es in die Hand. In seiner Art erinnerte es sie an das Exemplar, das Alasdair stets bei sich trug. Ein ähnlicher Einband, kein technischer Schnickschnack im Gegensatz zu modernen Büchern, die nur ein müder Abklatsch der einstigen Buchdruckkunstwerke waren.
Erwartungsvoll schlug sie es auf. Ihre Augen weiteten sich beim Überfliegen der ersten Zeilen. Sie blätterte vor, las still die nächsten Informationen, dann kehrte sie zur ersten Seite zurück. Das hatte sie nicht erwartet. Eine handgeschriebene Auflistung der Könige von Macra, ihre politischen Errungenschaften und ihr Leben. Angefangen bei dem Mann, der vor etwas mehr als einhundert Jahren herrschte.
Quen schlug das Büchlein zu und stand auf. Das Schriftwerk eng an ihre Brust gedrückt, lief sie zum Bibliothekar, der zwei Gänge weiter Bücher in ein Regal einräumte. Er blickte von seiner Arbeit auf und nickte ihr zu. Seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern, als er sich zu ihr beugte und sie ansprach. „Nehmt es mit, aber zeigt es niemandem. Nur Lord Chavdar darf es sehen."
Quendresa bedankte sich höflich bei dem alten Mann. Sie hob Aria, die fragend maunzte, vom Kissen, und klemmte sich das protestierende Tier unter den Arm. Mit dem Büchlein in ihrem Mantel versteckt, den Alasdair für sie hatte anfertigen lassen, eilte sie aus der Bibliothek zu dem Wohnquartier, das sie sich mit ihrem Gefährten teilte. Dort ließ sie sich auf ihr Bett fallen und fing an, zu lesen. Die Flederkatze flatterte auf die andere Seite, setzte sich auf die Bettdecke, und putzte sich dort indigniert das Fell.
Nachdem König Filippo seine zwei älteren Söhne, die im endlos erscheinenden Krieg gegen die Oameni gefallen waren, zu Grabe getragen hatte, kam der jüngste Prinz bei einem Attentat ums Leben. In gewissen Kreisen munkelte man, dass er sich mit Freunden an einer oamenischen Großhexe vergangen hatte. Diese jungen Männer, Söhne hoher Staatsdiener, fanden in derselben Nacht den Tod. Der oder die Täter wurden nie gefasst. Man vermutete, dass oamenische Spione sich für die schändliche Behandlung ihrer Hexe gerächt hatten.
Die Königin starb wenige Monate später vor Gram über den Verlust ihrer Kinder, wie es hieß. Doch hinter vorgehaltener Hand tuschelten die Höflinge, dass sie nach einer Fehlgeburt verstarb. Der König, von den Todesfällen schwer getroffen, siechte trotz vorheriger blendender Gesundheit innerhalb weniger Wochen dahin. Möglicherweise wurde er vergiftet, um den Platz auf dem Thron für eine neue Herrscherfamilie zu räumen.
Quendresa setzte sich auf und runzelte die Stirn. Bedeutete das etwa? Sie traute sich nicht, den Gedanken fortzuführen. Stumm starrte sie zur Tür, wartete auf seine Rückkehr. Er schuldete ihr eine Erklärung.
Nach einer Weile kehrte Alasdair zurück. Den Blick auf ihre versteinerte Miene gerichtet, näherte er sich ihr behutsam. „Du hast etwas herausgefunden." Eine nüchterne Feststellung. Sie reichte ihm das aufgeschlagene Büchlein. Er überflog die Zeilen, dann beugte er sich zu ihr. „Nicht jetzt, nicht hier", flüsterte er ihr ins Ohr.
Ein eisiger Schauer lief über ihren Rücken. Er hatte es gewusst. War er für den Tod der Peiniger ihrer Mutter verantwortlich? Quen suchte seinen Blick. Ein zögerndes Nicken war alles, was sie bekam.
Ihr Gefährte zog sein Buch aus der Manteltasche und blätterte darin herum. Auf eine Seite tippend, reichte er es ihr, verzog sich danach mit der Schrift des Bibliothekars auf sein eigenes Bett.
Quendresa atmete tief durch. Warum sprach er nicht mit ihr über alles? Fürchtete er, dass sie abgehört wurden?
Mit geweiteten Augen überflog sie die Zeilen, in denen er beschrieb, wie er ihre Mutter kennengelernt hatte. Wie sich seine anfängliche Abneigung langsam in Respekt für die junge Frau wandelte, die ihr Volk vehement verteidigte. Seine Wut, als er hörte, wer sich an ihr vergangen hatte. Die minutiöse Beschreibung wie er ihre Peiniger tötete. Das Versprechen, das er ihr gab. Für sie und ihr Kind zu sorgen.
Quendresa schluckte und blätterte vor zu einer Seite weiter hinten, auf die er mit einem neueren Eintrag hingewiesen hatte.
SIE hat mich verraten. Einhundert Jahre habe ich ihretwegen im Kryoschlaf zugebracht. Dabei war ich bereit, die Jagd auf ihresgleichen einzustellen. Um gemeinsam mit ihr das Kind großzuziehen. Doch jetzt werde ich die Großhexer ein für alle Mal vernichten. Angefangen bei dem Mädchen, dass den Soldaten auf Macra entkommen ist. Sie hat mich aus dem Schlaf geweckt. Schon bald wird sie für ihre Fahrlässigkeit büßen. Ich freue mich darauf, sie in meine Hände zu bekommen.
Quen senkte das Buch und schaute zu Alasdair, der in den Aufzeichnungen des Bibliothekars vertieft war. Seine Miene verriet nichts über seinen gegenwärtigen Gemütszustand.
Ich habe sie gefunden. Sie weiß nichts davon, dass ich ihre Tarnung durchschaut habe. Doch als meine Gefährtin hat sie nichts von mir zu befürchten. Ihr Schutz hat oberste Priorität. Auch weiß ich, wer ihre Ahnen sind. Die Ähnlichkeit ist offensichtlich. Ein Bluttest ist überflüssig, würde eh nur ihren Argwohn wecken. Vorläufig werde ich sie im Dunkeln darüber lassen, damit sie nicht versucht, vor mir zu fliehen.
Das hatte er richtig erkannt, überlegte Quen. Womit hatte sie sich nur verraten? Nicht, dass es jetzt noch einen Unterschied machte. Abgesehen von der mangelhaften Kommunikation bemühte er sich, ihr seine Zuneigung zu zeigen. Nicht umsonst schützte er sie vor seinem Volk, dessen war sie sich bewusst. Sie wandte sich dem letzten Absatz zu.
Ich verstehe nur eines nicht. Ihre Mutter und ein männliches Kind wurden ermordet. Wo befand Quendresa sich zu diesem Zeitpunkt? Hatte die Großhexe ihre Tochter in Sicherheit gebracht? Vor wem fürchtete sie sich so sehr, dass sie ihren kleinen Engel in fremde Obhut gab? Das Mädchen, das ich als meine Tochter angenommen hätte und die das Schicksal mir stattdessen zur Gefährtin gab. Was auch kommen mag, ich werde sie beschützen. Jeder, der sie bedroht, wird meinen Hass zu spüren bekommen. Für sie gebe ich den Kampf gegen die Oameni auf. Der Frieden, den ich damals angestrebt hatte, rückt mit meiner Gefährtin in greifbare Nähe.
Quen klappte das Büchlein zu und lief zu Alasdair, der während des Lesens geistesabwesend die Flederkatze streichelte, die neben ihm lag. Sie setzte sich zu ihm aufs Bett. Vielleicht war es an der Zeit, dass sie einen Schritt auf ihn zumachte. Sie würde jede Möglichkeit, den Krieg zu beenden, nutzen. Selbst wenn es bedeutete, ihre Unabhängigkeit aufzugeben.
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In den Fängen der Gripari
FantasíaSeit langer Zeit kämpfen die Oameni gegen die Gripari. Bewohner eines fremden Planeten, die ihnen Rohstoffe und junge Frauen stehlen. Als Quendresa, die letzte Hohe Großhexe der Oameni in die Hände der Gripari fällt, erweckt sie aus Versehen den dun...