Kapitel 9 // Ein energischer Engel

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Nachdem die Lehrerin nach einer Stunde endlich zurückgekommen war, hatte sie einfach alle außer mir nachhause geschickt. Alle waren überglücklich, nicht mehr in Klassenraum sitzen und schweigen zu müssen und waren so schnell gegangen, wie es nur möglich war. Natürlich hatte Gloria die Gruppe angeführt, da niemand eine Einladung zum Eisessen ausschlagen konnte, insbesondere, da Frau Weinstädter der Meinung war, die anderen sollen Gloria besser kennenlernen, als eine so nette neue Mitschülerin. Es war zwar böse, aber ich wünschte mir in diesem Moment, dass Gloria für immer und ewig verschwinden würde. Wenn schon der beste Engel seines Jahrgangs das dachte, wie würde es wohl den anderen ergehen? Ich kam mir selbst wie eine Heuchlerin vor. 

Bobby war wirklich noch dageblieben, auch wenn meine Klassenlehrerin ihn herausschicken wollte. Doch so schnell gab dieser wirklich wunderbare Junge auch nicht auf, auch wenn er grauenhaft in Mathematik war. Während die Lehrerin vorne schlief, versuchte ich hoffnungslos, ihm wenigstens die simpelsten Rechnungen beizubringen. Er wusste tatsächlich nicht, was die Wurzel aus siebenhundertneunundzwanzig war! Ich probierte es jedoch bei jeder Rechnung vom Neuen, bevor ich die richtige Lösung aufschrieb. Ich war mir sicher, dass er ein echtes Genie war, nur dass sich mehr konzentrieren musste. Er war einfach wunderbar, der einzige  Lichtblick in dieser gotthassenden Welt. Und egal, was ich auch nur sagte, er stimmte mir zu. Ich verstand nicht, wie ihn jemand nicht mögen konnte, er hätte beinahe auch ein Engel werden können. 

Gegen Mittag waren wir mit den Mathehausaufgaben fertig und er meinte, dass er dringend heimmüsse, um auf seinen kleinen Bruder aufzupassen. Er war wirklich bezaubernd - erst lernte er freiwillig so viel und unterhielt sich so lange mit mir, um sich dann um seinen Bruder zu kümmern. Am Abend musste er noch die Wohnung putzen, da seine Eltern so viel zu tun hätten, hatte er mir berichtet. Einen fleißigeren Jungen habe ich wirklich nie getroffen. Leider hieß es aber, dass ich so ganz allein mit der Lehrerin den Nachmittag verbringen musste. 

Kaum dass Bobby weg war, begannen die bösen Worte von vorne. Wie schrecklich ich doch sei, und dass man solch ein Verhalten nicht an den Tag legen dürfe. Egal, wie sehr ich auch versuchte, mich zu erklären, es klappte nicht. Sie schien mich nicht verstehen zu wollen, so unlogisch es auch klang. 

Um etwa ein Uhr, als schon alle Schüler die Schule verlassen hatten und nur noch die Lehrer da waren, hallten laute Schritte über den Gang. Ich hätte schon ahnen können, wer es war, denn so laut war bisher niemand, den ich hier jemals getroffen hatte. Als es klopfte, zuckte meine Lehrerin zusammen, bevor er die Person hereinbat. 

"Wieso ist Vitalina noch nicht zuhause?" Teresa, meine Adoptivmutter, stemmte ihre Hände in die Hüften. Sie war eine ziemlich ... energische Frau, was mich bei der ersten Bewegung schon in Angst und Schrecken versetzt hatte. Man konnte gut mir ihr auskommen, wenn man nur wusste, wie man mit ihr umgehen musste. 

"Es ist Ihnen nicht erlaubt, einfach in die Schule zu kommen." 

"Es ist Ihnen nicht erlaubt, einen Schüler nachsitzen zu lassen, ohne die Eltern zu informieren. Zudem habe ich Ihnen eine Frage gestellt und ich erwarte eine Antwort." 

"Wie Sie schon selbst geantwortet haben, sie sitzt nach. Und außerdem ist sie alt genug, um nicht mehr von ihrer Mami abgeholt zu werden." 

"Wenn die Lehrer dieser Schule nicht so inkompetent wirken würden, dann würde ich meine Kleine auch nicht abholen kommen. Doch da Sie offenkundig gesetzeswidrig handeln, werde ich mich wohl persönlich darum kümmern müssen. Ich werde bei der Schulleitung eine Beschwerde gegen Sie einreichen und zudem erwarte ich, dass Sie jeden Tag auf die Sekunde Ihren Unterricht beenden, wenn Sie mich nicht vorher über ein etwaiges Nachsitzen informiert haben. Haben Sie das verstanden?" 

Es klang zwar nicht wirklich himmlisch, was und wie sie redete, aber bisher hatte sie all ihre Fälle mit dem bestmöglichsten Ergebnis beendet. Nun, wie es schien, entsprach wohl die gesamte Welt nicht der, die wir im Lehrbuch auswendig gelernt hatten. 

"Rasten Sie doch nicht so aus, es war doch alles so chillig, bevor Sie aufgetaucht sind. Und außerdem wollen Sie sicher nicht wissen, was Ihre Tochter heute in der Schule angestellt hat, dieses scheinheilige Kindchen." 

"Erzählen Sie doch, wenn Sie möchten, ich würde wirklich gerne wissen, was Sie meinem kleinen Engelchen vorwerfen." 

"Was ich ihr vorwerfe? Was die Klasse ihr vorwirft, wohl eher! Sie hätte beinahe einen Mitschüler umgebracht! Sie hat die ganze Klasse dazu gebracht, das Treppengeländer hinunterzurutschen!" 

"Wann?" Teresa ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. 

"Fünfzehn Minuten vor Unterrichtsbeginn! Ich war zwar dann nicht da, aber glaubwürdige Lehrkräfte haben mir das übermittelt." 

"Dann war es Vitalina nicht." 

"Wieso?" Meine Lehrerin klang ziemlich genervt. 

"Sie hat erst fünf Minuten vor Unterrichtsbeginn das Haus verlassen. Wenn Sie wollen, gebe ich es Ihnen sogar schriftlich und unsere Nachbarn werden es sicher auch bestätigen." 

"Oh ..." 

Denn an sich ist nichts weder gut noch böse; das Denken macht es erst dazu--- 

Die Hölle ist leer, alle Teufel sind hierWo Geschichten leben. Entdecke jetzt