Kapitel 47

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Ganz langsam dreht sich mein Kopf Richtung Bühne. Der Club scheint auf einmal ganz leise zu sein. Ich höre die Musik nicht mehr. Ich höre die Bedienung nicht mehr. Die ganzen feiernden Menschen um mich herum scheinen nicht mehr zu existieren. Ich sehe nur die Bühne und das Licht, das darauf scheint. Es vergehen Minuten, vielleicht Stunden, bis ein Mann in schwarz die Bühne betritt. Er ist groß und hat langes Haar, dass zu einem lockeren Knoten hochgebunden ist. Er besteigt die Bühne, als ob es sein Reich wäre. Er bewegt sich gekonnt zu der Musik und die Frauen umringen die Bühne kreischend. Der Mann hat keine Hemmungen, bewegt sich im Takt der Musik und genießt die Aufmerksamkeit der jubelnden Frauen.

Ich spüre, wie mein Körper ohne meine Einwilligung sich die Treppe runterbewegt. An der vorletzten Stufe bleibt es stehen, um über der Menschenmenge den Mann zu sehen, der gerade das Shirt auszieht und es in die Menge wirft.

Ich stehe immer noch da. Wie angewurzelt bleiben meine Füße auf der Stufe stehen. Ich sehe zu, wie der Mann sich bis auf den String auszieht, wie er mit seinem Publikum spielt. Zwei feierwillige Mädels, kaum volljährig, klettern fast auf die Bühne. Der Mann kommt zu ihnen, nimmt sie an den Hinterköpfen und streck ihnen seinen mit String bedecktes bestes Stück fast ins Gesicht. Die Mädels lassen ein paar Scheine im String verschwinden, worauf sich der Mann mit anfassen lassen bedankt. Ich bin so verloren. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin und was ich hier tue. Ich spüre gar nichts. Nichts außer dem Schmerz in meiner Brust, das mich zu zerreißen versucht und etwas Warmes, das meine Schulter berührt. Ich drehe mich zu der Wärme um und sehe ein bekanntes Gesicht. Das ist das Gesicht, das ich jetzt nicht sehen will, und trotzdem ist es da.

„Jessy, ich wollte es dir schon so oft sagen ...", sagt Sandra mit dem mitfühlendsten Blick, denn ich kenne. Ich sehe sie an, kann aber nichts sagen. Dann blicke ich wieder zur Bühne.

Der Mann, den ich liebe hat schon eine hübsche Frau zu sich auf die Bühne geholt und rekelt sich an ihrem Körper. Ich habe das Gefühl, dass mein Kopf total leer ist, kein Funken Verstand, denn ich will was sagen, aber es kommt einfach nichts raus. Ich will mich wegdrehen und davonlaufen, doch mein Körper bewegt sich nicht. Ich habe kein Gefühl mehr in mir, keinen einzigen Gedanken. Leere! Es ist totale Leere in mir. Ein tiefes schwarzes Loch.

Dieser Zustand kommt mir bekannt vor. Das hatte ich schon mal ...

Dann regt sich doch etwas in mir, der Beweis, dass ich noch lebe: es ist Angst. Angst davor, wieder zusammenzubrechen. Angst davor wieder in der Psychiatrie zu landen. Das will ich nicht. Ich will nicht wieder hilflos sein und das ganze nochmal erleben.

Ich muss mich zusammenreißen. Ich darf mich nicht kleinkriegen lassen! Ich muss stark sein, für mich und für Luca. Ich sehe wieder zu Sandra und versuche mit aller Kraft all die Gefühle, die ich durch Damian wiedergefunden habe, zu verscheuchen.

Ich hatte es sehr gut, bis er in meinem Leben aufgetaucht ist. Ich war nicht sonderlich glücklich, aber ich war stark. Zumindest bis auf die Nächte. Aber davon wusste keiner und es war bei weitem nicht so schmerzhaft, wie das zerbrochene, leere Herz in mir, dass ich nicht schlagen höre.

Ich sehe die tränenunterlaufenen roten Augen von Sandra, doch anstatt zusammenzubrechen, ziehe ich die unsichtbare Mauer, die ich für kurze Zeit fallengelassen habe, im Geiste wieder auf.

„Ach ja?", sagt eine Stimme, die ich nicht als meine eigene erkenne.

„Jessy, es tut mir ehrlich leid. Ich wollte es dir wirklich die ganze Zeit sagen." Sandra wischt sich mit der Handfläche über die Wange, an der die Tränen runter laufen. „Aber er hat versprochen, dass er damit aufgehört hat."

Ich will sie zum Schweigen bringen, doch mein Mund bewegt sich nicht.

„Er sagte, dass du ihm sehr wichtig bist und er damit nicht weitermacht. Ich habe ihm geglaubt!" Jetzt fängt sie richtig an zu heulen. Wieso? Was geht sie das Ganze an?

Jess - Strength of FeelingsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt