20. Kapitel

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Dass ich auf Alex' Wort nichts mehr geben kann, merke ich am nächsten Morgen, als ich von einer allzu bekannten Stimme geweckt werde.

„Lass sie los, du verdammter Mistkerl!" Dann ein dumpfer Schlag, ein spitzer Schrei und aus leisem Wimmern wird lautes Schluchzen. Was zur Heugabel ist da los? Das sind doch ... Nein, das kann nicht sein. Er hat's mir versprochen!

Trotzdem stehe ich sofort an den Gitterstäben und scanne mit hektischem Blick den Innenhof. Wo sind sie? Oder ... hab ich nur von ihnen geträumt? Das muss es sein! Außer mir ist hier niemand. Gott sei Dank.

Erleichtert sinke ich zu Boden und vergrabe mein Gesicht in den Händen. Mein Herz rast noch immer. Für 'nen kurzen Moment hab ich doch tatsächlich gedacht, Ty fluchen und Millie weinen zu hören.

Dummerweise war das kein Traum. Denn gerade als ich einen tiefen Seufzer ausstoßen will, ist es wieder da – Millies Weinen. Shit! Wo sind sie?

„Hör endlich auf damit, du tust ihr weh!"

Wie immer tritt Ty für die Kleine ein, hat aber keine Chance gegen den riesigen Dämon, der Millie grob hinter sich herzieht. Der Koloss schaut nur von oben auf den Jungen herab und lacht dreckig.

„Das ist auch der Sinn der Aktion, Kleiner. Je mehr Geheule und Geschrei, desto besser." So ein Monster! Das sind doch noch Kinder!

„Ach ja?!" Tys Stimme wird gefährlich leise. „Wenn du das noch mal machst, reiß ich dir eigenhändig die Eingeweide raus. Also lass sie in Ruhe, Dämon!"

„Oh, jetzt hab ich aber Angst. Wuhuuu." Statt sie loszulassen, zerrt der Dreckskerl unsere kleine Millie noch brutaler an den Haaren Richtung Käfig. Und wieder höre ich das irre Lachen, das mir eiskalte Schauer über den Rücken jagt.

Natürlich gibt Ty nicht auf. Mit Händen und Füßen wehrt er sich gegen den Dämon, der ihn in der Mangel hat. Den beeindruckt das aber kein Stück. Der Scheißkerl legt einfach seine große Hand um Tys Kehle und drückt zu, bis ich nur noch ein Röcheln höre.

„Nein!", brülle ich. „Aufhören!"

Doch die ignorieren mich einfach.

Es bringt mich fast um, in diesem beschissenen Käfig zu sein. Ich kann nur zusehen und überhaupt nichts für meine Schützlinge tun. Dabei ist alles meine Schuld! Ich habe Alex vertraut und ihn in ihr Leben gebracht. Sonst wär'n sie jetzt nicht hier und in Lebensgefahr!

Und ich blöde Kuh hab ihm letzte Nacht auch noch seine Ich-beschütze-nur-die-Kinder-Nummer abgekauft. Ich bin so dämlich!

Während ich mir verzweifelt die Haare raufe und nach 'ner Lösung suche, rufe ich: „Ty, Millie, haltet durch! Ich bin hier – wir finden einen Weg, ganz bestimmt. Aber wehrt euch nicht mehr. Bitte! Ihr müsst am Leben bleiben ..."

Vor mir verschwimmt alles. Nein! Die können mich doch nicht schon wieder vergiftet haben, oder? Das passt jetzt überhaupt nicht! Wenn ich in Ohnmacht falle, sind die Kids komplett auf sich allein gestellt. Das ist keine Option! Also reibe ich mir die Augen und konzentriere mich mit aller Macht aufs Wachbleiben. Und es klappt! Für einen Moment sehe ich wieder klar.

Doch der ist schnell vorbei.

Zum Glück bemerke ich die Feuchtigkeit an meiner Hand, bevor ich panisch werde. Was zur ...?! Das sind Tränen! Die laufen mir wohl schon 'ne Weile übers Gesicht. Kein Wunder, dass ich verschwommen sehe! Es war gar kein Gift.

Energisch blinzle ich den Schleier weg und wische voller Trotz die letzten Spuren von meiner Haut. Es reicht, heulen kann ich später!

Dann tue ich das Einzige, was dieser verdammte Käfig zulässt. Ich schreie.

„Alex! Wo steckst du, du Drecksack?!"

Keine Reaktion.

„ALEXOR!"

Nun öffnet sich die Tür auf der anderen Seite.

„Was zum Teufel ist hier los?!"

Mit weit aufgerissenen Augen starrt Alex die Kids und ihre Bewacher an. Wenn ich's nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass er genauso überrascht und schockiert ist wie ich. Dabei muss er seinen Kumpels gesteckt haben, wo Millie und Ty zu finden sind. Im Waldhaus hätten die doch nie gesucht! Die Kids war'n ja angeblich so sicher in seinem bescheuerten Rosen-Raum ...

„Na siehst du, Luzius", meint der Kerl mit den dunkelbraunen, gelgetränkten Haaren, der unverändert Tys Kehle zudrückt. Ich kann gar nicht hinsehen ... Hoffentlich hat Alex noch 'nen Funken Anstand im Leib und tut endlich was! Ich fürchte nur, die Schmalzlocke gibt nicht so leicht klein bei. Der Typ ist mindestens fünf Zentimeter größer als Alex und hat scheinbar noch 'ne Rechnung mit ihm offen. Das ist nicht gut. „Unser kleiner Bruder kann gar nicht fassen, wie schnell wir Erfolg hatten. Er wäre sicher noch ewig durch die Stadt geirrt, um die beiden zu finden." Das dreckige Lachen, das nun folgt, ist auch nicht viel besser als das irre seines Bruders.

Moment. Was?! Das sind Alex' Brüder?! Die sehen ... völlig anders aus als er.

„Andras hatte recht. Sein dämlicher Gesichtsausdruck war's wert, so früh aufzustehen. Los, Zekesch! Ab mit ihnen in den Käfig." Der Brutalo mit den langen gelbblonden Haaren, der Millie bisher gequält hat, schubst sie jetzt zur Gelfrisur. Zekesch? Was ist das denn für'n Name?! „Ich erstatte Vater Bericht." Und schon ist er weg.

„Wo ... habt ihr sie gefunden?"

Mein Blick schießt zu Alex, der noch immer völlig entgeistert die beiden Kids anstarrt. Hat er etwa nichts damit zu tun?

„Gute Frage, Bruderherz." Im letzten Wort steckt so viel Abscheu, dass es selbst mich ekelt. Aber ... wer hat das gesagt? Als ich die vierte Stimme suche, erstarre ich plötzlich. Das kann nicht sein! Der gehört auch zu Alex' Brüdern?!

Unbemerkt von mir muss sich die Tür nach den Kids noch mal geöffnet haben. Denn da steht auf einmal der Hunde-Dämon, der mich schon am ersten Tag fast zu Tode erschreckt hat!

Er sieht genauso aus wie in meiner Erinnerung – bullig, muskelbepackt, mit roten Haaren und perfekt gestutztem Bart. Doch heute läuft er aufrecht. Das sollte ihn wohl menschlicher wirken lassen, aber das tut's nicht. Dieser Kerl ist gruseliger als die anderen beiden und Alex zusammen. Dieser Hunde-Mann beschert mir Gänsehaut am ganzen Körper. Echt unheimlich!

„Andras." Alex starrt ihn entgeistert an. „Wie konntest du sie so schnell finden?"

„Oh, das war leicht, Bruderherz." Wieder dieser beißende Sarkasmus. „Ich musste nur der Essenz deiner reinen Seele folgen. Die hat mich direkt in den Wald geführt. Und nach ein bisschen Suchen haben wir die hier gefunden. Die kleinen Scheißer sind doch tatsächlich mutterseelenallein durchs Unterholz geirrt. Tze, tze, tze. Da hat Mama-Bär wohl nicht aufgepasst. Sie hätte sich einfach nicht von dir fangen lassen dürfen. Dann wäre auch jemand da gewesen, um ihre Gören zu beschützen." Sein spöttischer Blick trifft mich. „Hätte zwar nichts genützt, wäre aber witziger gewesen – zumindest für mich. Das Foltern einer Mutterfigur macht immer wieder Spaß."

Der Kerl ist doch völlig irre! Und das soll Alex' Bruder sein?!

Aber ... was hat er da gerade gesagt? Die Kids sind im Wald rumgeirrt? Da hatten sie gar nichts zu suchen! Mein vorwurfsvoller Blick trifft Ty, doch der hängt nur schlaff in Speckhaars Armen und rührt sich nicht mehr. Das Monster drückt noch immer seine Kehle zu!

„Lass endlich los, verdammt! Du wirst ihn töten! Siehst du denn nicht, dass Ty schon blau anläuft?! Der Junge braucht Sauerstoff, sofort!" Meine schrille Stimme hallt durch den Hof und zieht sämtliche Blicke auf sich. Na endlich! Sie müssen Ty helfen! Ich hab nur noch Augen für ihn und ignoriere dabei völlig, dass mir schon wieder Tränen übers Gesicht laufen. Er wirkt so leblos ...

Auch Alex wird blass, als er den Jungen ansieht. „Lass ihn sofort los! Wenn der Körper vor der Zeremonie stirbt, wird Vater dich lynchen."

Das ist wohl keine leere Drohung. Der Schmierlappen gibt auf der Stelle Tys Hals frei. Ängstlich starre ich den Jungen an. Los, beweg dich! Dann flattern seine Augenlider – dem Himmel sei Dank!

Erleichtert atme ich auf. Wenigstens eine Gefahr ist abgewendet. Jetzt darf ich nur nicht an die Zukunft denken ...

Was zur Hölle?!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt