Kapitel 88

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Tiefes Schweigen folgte Ambers Worten. Ginny riss sich die Hand vor den Mund und war zu schockiert, um einen Ton hervor bringen zu können. Das konnte, das durfte jetzt nicht das Ende sein! Dass es Amber allein mit Worten gelingen würde, sich aus der Situation herauszuwinden... während Harry seine bisherigen, magischen Verteidigungsfähigkeiten verloren zu haben schien und sie selbst mit einer Verletzung geschlagen war. Entsetzt blickte sie zu Harry hinüber, doch bevor sie ihn auffordern konnte, Ambers Herausforderung zu ignorieren, hatte er ihr bereits einen entschlossenen Gesichtsausdruck zugeworfen und ihr zugerufen:

„Jones, 13. November 1998."

Danach bückte er sich rasch und hob mit seiner freien Hand Ambers Zauberstab auf. Irritiert zog Ginny die Augen zusammen. Vor ihm hätten zwei Zauberstäbe liegen müssen... Ihrer war jedoch verschwunden. Die Gedanken rasten durch Ginnys Kopf. Bei Merlin, was hatte Harry gemeint? Es war eindeutig, dass er ihr etwas hatte mitteilen wollen, das Amber nicht verstehen sollte.

Wie von weit her klangen Harrys Worte an Amber in ihr Ohr:

„Deine Worte sind das reinste Gift!"

Und während Ginny fieberhaft nach dem Sinn hinter Harrys Worten suchte – was, bei Merlin, hatte Gwenog Jones' Stunt hier zu suchen? – sah sie Ambers Blick auf dem Zauberstab in Harrys Hand verharren und hörte deren befriedigte, von oben herab klingenden Worte:

„Ja, man kann wohl sagen, dass ich ein Händchen für die richtigen Formulierungen habe. Du kannst mir alternativ natürlich auch meinen eigenen Zauberstab wiedergeben."

Auffordernd streckte ihm Amber die offene Hand entgegen.

Und in diesem Moment begriff Ginny. Jones hatte damals eine spektakuläre Linksdrehung hingelegt und war nach unten getaucht, um den plötzlich tief unter ihr erschienenen Schnatz einzufangen. Wollte Harry ihr damit zu verstehen geben, dass sich ihr eigener Zauberstab irgendwo links von ihr unterhalb ihres Sichtfeldes befand?

Von der Eile auf eine letzte Chance getrieben drehte sich Ginny mit klopfendem Herzen zur Seite, während die Worte von Harry und Amber an ihr vorbeiflossen, ohne dass sie ihnen länger zuhörte. Neben ihr erhob sich der hölzerne Regalschrank, auf dem sich Töpfe, Kessel und Pfannen sowie weiter oben diverse Gewürze befanden. Ginny bückte sich nach vorne, zog ihren Kopf zwischen die Schultern und spähte in den Bereich, der sich direkt unter dem Schrank befand. Und tatsächlich – in der Mitte des schmalen Hohlraumes unter dem Regal lag ihr Zauberstab.

Bei Merlin! Er hatte sich bereits die ganze Zeit in ihrer Nähe befunden. Harry musste ihn in der kurzen Dunkelheit vorhin hierher befördert haben, während Amber abgelenkt gewesen war. Und jeden Gedanken dann anschließend erfolgreich vor Amber verborgen haben. Nervös warf Ginny einen kurzen Blick in den vorderen Teil der Küche hinüber. Doch Amber hatte nur Augen für Harry, der sich noch immer im Besitzt beider Zauberstäbe befand. Wie lange würde er Amber noch mit seinen Worten hinhalten können? Sie musste sich beeilen.

Zügig ließ sich Ginny auf den Bauch sinken. Sie ignorierte den blitzartigen Schmerz, der dabei durch ihren Fuß zuckte, streckte ihren Arm aus und schob ihn unter den Schrank. Es reichte nicht. Verbissen machte sie ihre Finger so lang sie konnte... taste über den Boden... und fühlte die Zeit verrinnen, wie in einem kaputten Stundenglas, das sich in immensem Tempo füllte... Endlich spürte sie etwas an ihren Fingerspitzen, griff danach... und zog das so wichtige Stück Holz schließlich hastig zu sich heran.

Im gleichen Moment vernahm sie Ambers kalte Stimme:

„Spar dir deine hehren Worte, Harry, und triff endlich die Entscheidung, die dir deine Gedanken bereits vorgegeben haben!"

Eine unheilvolle Stille folgte ihren Worten, bis schließlich ein fassungsloser Aufschrei ertönte: „Das ist unmöglich!"

Amber wirbelte herum, doch Ginny hatte sich bereits aufgerichtet und richtete nun entschlossen den Zauberstab auf sie. Das Blut wich Amber aus dem Gesicht und bescherte ihren Zügen eine Blässe, denen nunmehr eine gewisse Ähnlichkeit mit Voldemort nicht abzusprechen war. Ihre Augen weiteten sich voller Schrecken und zum allerersten Mal an diesem Abend erkannte Ginny so etwas wie Furcht in Ambers Gesicht.

Sie handelte nun instinktiv und warf Amber einen Lähmzauber entgegen, dem diese mit einer raschen Drehung auswich.

„Mehr hast du nicht zu bieten, Feuerkopf?", spottete Amber, wenngleich ihr Gesicht keine Spur mehr der Gelassenheit aufwies, die es vorhin so beständig gekennzeichnet hatte. Ihre Lippen waren zusammengepresst und ihre Augen schienen Ginny geradezu durchleuchten zu wollen. Zornig über ihr Versäumnis schirmte Ginny rasch wieder ihren Geist ab und vernahm dann Ambers nächste verächtliche Worte:

„Unfähig, einen Todesfluch auszuführen, Ginny?"

Ginny spürte, wie sich ihr Atem beschleunigte und ihr Herz so kräftig klopfte, als wolle es aus ihrer Brust herausspringen. In das vorige Gefühl der Genugtuung mischte sich nun eine ungeheure Anspannung. Paragraphen und Gesetzestexte der Academy rauschten durch ihren Kopf, das Verbot der unverzeihlichen Flüche und das Gebot der Verhältnismäßigkeit: es waren die minimalsten Mittel zu verwenden, um den Gegner kampfunfähig zu machen, was bedeutete, niemanden über die pure Notwendigkeit hinaus zu verhexen, der längst unbewaffnet war.

Aber galt das hier überhaupt? Amber war zwar ohne Zauberstab, dennoch allein durch ihre Worte weiter gefährlich... Doch es war nicht die Aufgabe der Auroren, dunkle Magier zu töten... Diese Entscheidung konnte nur ein Gericht treffen.

Überraschenderweise hatte Amber mittlerweile ein Grinsen aufgesetzt und höhnte:

„Lernen die Auroren in Britannien etwa nicht zu töten? Oder handelt es sich hier schlichtweg um deine eigene Unfähigkeit?"

Zorn wallte in Ginny auf, zum nicht geringen Teil dadurch hervorgerufen, dass Amber Recht damit hatte, dass sie mit der Entscheidung haderte, den Todesfluch einzusetzen. Wütend erwiderte sie daher:

„Du hast wahrlich Schlimmeres verdient als den raschen Tod!"

Lebenslang Azkaban war die einzig gerechte Strafe, dachte Ginny. Andererseits war es nicht von der Hand zu weisen, dass der Ausgang eines Gerichtsverfahrens ungewiss war – Amber würde es womöglich fertig bringen, die Geschworenen um ihren Finger zu wickeln. Und was nach einem Freispruch passieren würde, daran wollte Ginny erst gar nicht denken. Doch sie war noch in der Ausbildung, besaß längst nicht die Lizenz zum Töten...

Ohne mit der Wimper zu zucken starrte Amber sie einen Moment lang an und spottete dann:

„Ich wusste, dass dir die Courage dazu fehlt. Du bringst es genauso wenig fertig, bis zum Äußersten zu gehen wie dein jämmerlicher Ex-Freund hier. All meinen Folterflüchen zum Trotz. Und glaube mir, ich habe ihn nicht geschont..."

Ginny schluckte und sah von Ambers ungerührtem Gesicht hinüber zu Harry, der unvermittelt blass geworden war. Erneut schweifte ihr Blick über seinen Körper und blieb an den Spuren der Grausamkeiten hängen, denen er ausgesetzt gewesen war. Sie spürte, wie der Hass auf Ambers Willkür und der Wunsch nach Vergeltung in rasantem Tempo wuchsen, sich in jede Zelle ihres Körpers verästelten, bis beides schließlich alle anderen Gedanken überlagerte. Und ohne noch länger nachzudenken richtete Ginny ihren Zauberstab direkt auf Ambers Brust...

Harry Potter und das süße Gift der HoffnungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt