Kapitel 3

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Liza kontrollierte ein letztes Mal den Knoten, mit dem sie sich das Seil um die Hüften geschlungen hatte. Matthews wiederholte Bitte, ja vorsichtig zu sein, kommentierte sie lediglich mit einer hochgezogenen Augenbraue. Das hier war nicht die erste Wand, die sie hinunterkletterte und schon gar nicht die erste, bei der sie etwas improvisieren mussten. Dass ihr Vorhaben gefährlich werden konnte, wusste sie selbst. Der Boden war durch den Regen extrem aufgeweicht und glitschig und sie hatten weder die richtige Ausrüstung, noch trug sie geeignete Schuhe. Aber trotz allem war das nichts, was sie abhalten konnte. Dann musste sie eben noch vorsichtiger sein, als normalerweise. Immerhin gab es das Seil.

Dave sagte nichts. Lediglich die steile Falte zwischen seinen blauen Augen verriet, dass auch er nicht ganz so entspannt war, wie er tat. Er hatte sich das Seil ebenfalls um die Hüften geschlungen und suchte gerade nach einem sicheren Stand. Dann nickte er ihr zu und Liza begann mit dem Abstieg. Routiniert und hochkonzentriert kletterte sie tiefer. Die Wurzeln und Felsen hätten es ihr normalerweise einfach gemacht, Halt zu finden, durch den Regen hatte sich allerdings das Erdreich gelockert und die Felsen waren an einigen Stellen gefährlich rutschig. Aber sie erreichte ohne Zwischenfälle eine Art natürlichen Sims, von dem aus sie sich weiter zu der Stelle schieben konnte.

Kurz vor dem Ziel hielt sie plötzlich inne. Ihr Blick wurde von zwei weit aufgerissenen Augen eingefangen, die sie unter einem kleinen Vorsprung heraus anstarrten. Sie gehörten zu einem Mädchen, vielleicht in ihrem Alter, die dort kauerte. Die braunen langen Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab. Ihre Kleidung, bestehend aus Jeans und einem roten Pulli, war durchnässt und dreckig. Auch in ihrem Gesicht und an den Händen zeigten sich deutliche Schlammspuren. Und zu allem Überfluss prankte an ihrer Schläfe ein heftiger Bluterguss, der in allen Farben schimmerte und unbedingt behandelt gehörte.

»Geh weg!« Ihre Stimme war nicht mehr als ein ängstliches Flüstern.

Beschwichtigend hob Liza eine Hand und krabbelte noch zwei Schritte näher an das Mädchen heran, die sich jedoch nur tiefer unter den Vorsprung drückte. »Es ist alles gut. Ich will dir nur helfen.«

Sie schüttelte den Kopf, einen panischen Ausdruck in den Augen. »Nein! Lass mich in Ruhe!«

Liza verharrte einen Moment und überlegte, wie sie das Vertrauen des Mädchens erlangen könnte. Sie suchte einen sicheren Platz und blieb dort hocken, umfasste mit der einen Hand eine Wurzel, die andere hielt sie vor sich, um zu signalisieren, dass keine Gefahr von ihr ausging.

»Wie heißt du?«, frage sie mit ruhiger Stimme. »Ich bin Liza.«

Keine Antwort.

»Du musst Hunger haben«, machte sie einfach weiter. »Und Durst. Wir sind gerade unterwegs gewesen zum Strand und wollten uns dort einen schönen Tag machen. Wenn du willst, komm mit mir. Wir haben so viel, dass wir dir was abgeben können.«

Das Mädchen zögerte. Dann erstarrte sie jedoch wieder.

»Wer ist ›wir‹?«, fragte sie.

»Meine Freunde Dave und Matthew warten oben. Wir sind heute zufällig hier vorbeigekommen und haben nachgesehen, ob jemand Hilfe braucht.«

Stumm musterte sie das Mädchen. Das leichte Zittern entging Liza dabei nicht.

»Ist dir kalt? Du siehst aus, als wärst du schon eine Weile hier unten.«

Das Mädchen nickte. »Die ganze Nacht.«

»Du warst während des Gewitters schon hier? Kein Wunder, dass du völlig durchnässt bist. Ich kann dir Wechselklamotten geben. Dann können deine wieder trocknen.«

Liza bemerkte, wie es in ihr zu arbeiten begann. Die Aussicht auf trockene, warme Kleidung und etwas zu Essen, schien den Widerstand langsam aufzulösen.

Too Many LiesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt