Die fremde Stimme ließ das Blut in Daves Adern gefrieren. Mel fuhr herum und keuchte erschrocken auf.
An der Tür stand ein Mann, mit breiten Schultern und muskulösen Armen. An einem davon sah Dave ein Tattoo unter dem T-Shirtärmel hervorblitzen. Der Mann war groß und wirkte noch bedrohlicher, als er sich mit verschränkten Armen hinstellte und finster auf sie herabblickte.
Mel sprang auf und stellte sich schützend zwischen Dave und den Mann. »Lass ihn gehen und ich tue alles, was du willst.«
Dave wollte protestieren, aber der Fremde - bei dem es sich dann wohl um Nicolai handeln musste - lachte laut auf.
»Nettes Angebot, aber das ist nicht die Zeit für Verhandlungen. Hab ichs mir doch gedacht, dass du versuchst abzuhauen und ich dich hier wiederfinde.«
Nicolai trat näher. Seine gesamte Körperhaltung strahlte so viel Wut aus, dass Dave sich - und Mel - am liebsten weggewünscht hätte. Mel zitterte, aber sie wich keinen Millimeter zurück, sondern hob sogar noch trotzig das Kinn an.
»Damit kommst du nicht durch!«
Nicolai kniff die Augen zusammen, unterbrach sie aber nicht.
»Man wird uns finden«, sagte sie mit zittriger Stimme. »Und dich wird man auch finden. Und dann machen sie dich fertig.«
Er lachte. »Sei dir da mal nicht so sicher.« Er trat noch einen Schritt näher und stand nun so nah vor ihr, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste.
»Du kannst so viel schreien und toben, wie du willst, kleine Mel«, raunte er. »Niemand wird euch finden und retten. Weil es nämlich keine einzige Spur gibt, die auf diese Hütte hindeutet. Ich habe alle vorher verwischt.«
»Achja? Sagtest du nicht, dass die Hütte deiner Tante gehört? Was hast du mit ihr gemacht? Sie aus dem Weg geräumt?«
Er legte den Kopf in den Nacken und lachte erneut auf. »Das war gar nicht nötig. Meine Tante ... du solltest wissen, dass wir nicht miteinander verwandt sind. Sie ist nur eine alte Dame, die die Tantenrolle übernommen hat, als meine Eltern starben. Doch das ist nirgendwo dokumentiert. Es gibt niemanden mehr, der davon weiß, weil meine Eltern bereits über 10 Jahre tot sind und Tante Emily schon vor Jahren nach Silber Valley gezogen ist. Sie hat mich nie finanziell unterstützen können, weil sie selbst gerade mal genug zum Leben hat. Es gibt keine Hinweise auf unsere Verbindung.« Sein Grinsen bekam etwas wölfisches.
Mel schüttelte stumm den Kopf, in ihrer Miene zeigte sich Ungläubigkeit. Vermutlich hatte sie sich über diese Verbindung Chancen ausgerechnet.
Nicolai musterte sie und wirkte sehr zufrieden. Dann griff er hinter sich. Dave wollte sie warnen, aber da hielt Nicolai bereits eine Waffe in seiner Hand ... genau in seine Richtung.
Dave schluckte trocken.
Mel brauchte einen Augenblick, bis sie die Pistole registrierte, dann trat sie erschrocken einen Schritt zur Seite. Ihr Kopfschütteln wurde stärker.
»Was tust du da?«, flüsterte sie.
»Verhindern, dass du Dummheiten machst«, antwortete Nicolai und kam zu Dave herüber, ohne Mel aus den Augen zu lassen. »Eine falsche Bewegung und dein Freund hat ein Problem.«
Er kniete sich hin und kontrollierte die Fesseln und ging dann wieder zu Mel.
»Und jetzt nochmal«, knurrte er in einem bedrohlichen Tonfall, »Was. Läuft. Da. Zwischen. Euch?«
Mel schüttelte erst langsam, dann immer schneller den Kopf. »Das hab ich dir bereits gesagt. GAR NICHTS!«
Nicolai schnaubte geringschätzig. »Ja, genau. Deswegen übernachtest du auch bei ihm, richtig? Weil da nichts läuft!«
»Ich habe in seinem Gästezimmer geschlafen!«, verteidigte sich Mel.
Nicolai trat noch ein Stück näher an Mel heran. Man sah ihr an, dass sie den Impuls mit aller Kraft unterdrückte, auszuweichen.
»Ich glaube dir kein Wort, dafür habt ihr euch auf der Party viel zu gut verstanden.«
Dave brauchte einen Augenblick, bis er begriff, was Nicolai da gerade gestanden hatte. Er hatte sie beobachtet? Die ganze Zeit?
»Darum geht's hier?«, schaltete er sich ungläubig ein. »Ist das dein beschissener Ernst? Ich weiß nicht, was du gesehen hast, aber sie hat recht! Da lief nie irgendetwas!«
»Verarschen kann ich mich allein«, spie Nicolai ihm entgegen. »Du magst sie. Ich hab doch deine Blicke gesehen, die du ihr zugeworfen hast. Wer weiß, was da noch so gelaufen ist, hinter verschlossen Türen. Aber du wirst deine Finger von ihr lassen. Sie gehört zu mir! Sie ist mein Mädchen!«
»Scheiße, ich bin niemandes Mädchen!«, entgegnete Mel empört. »Schon gar nicht deins! Ich hab mich von dir getrennt!«
»Halt die Klappe!«, brüllte sie Nicolai unbeherrscht an. Die Waffe hatte bisher auf den Boden gezeigt, jetzt zielte sie genau auf ihren Kopf. Mel erschrak und wich zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand stieß.
»Ich kann mit jeder Sekunde besser verstehen, warum sie sich getrennt hat«, murmelte Dave. Die Stimme, die ihn aufforderte, endlich die Klappe zu halten, wurde immer lauter. Aber Dave überhörte sie geflissentlich.
Nicolais Gesicht verzerrte sich. Mit schnellen Schritten überbrückte er die Distanz. Dave sah den Schlag kommen, aber ausweichen war in seiner Situation unmöglich. Er hörte Mels Schrei, dann traf die Faust seinen Unterkiefer. Kurz darauf folgte ein weiterer Schlag. Schmerz breitete sich aus, er schmeckte Blut, was er diesem Mistkerl am liebsten vor die Füße gespuckt hätte. Aber er beherrschte sich.
Er leckte sich über die aufgeplatzt Lippe und schnaubte verächtlich. »Große Leistung. Einen Wehrlosen zu verprügeln. Da kannst du echt stolz sein.«
Aber Nicolai ließ sich nicht noch einmal provozieren. Mit einem letzten verächtlichen Blick wandte er sich ab und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Mel, die mit schreckensbleichem Gesicht dastand und auf Dave starrte.
Als Nicolai vor ihr stand, zuckte sie zusammen und blinzelte, als wäre sie aus einem Traum aufgewacht. »Du Monster!«, flüsterte sie. »Was ist nur aus dir geworden?«
»Wenn man fallengelassen wird und sich aus der Scheiße erst wieder hochkämpfen muss, lernt man, nicht zimperlich zu sein. Ich weiß genau, was ich will. Ich werde jeden vernichten, der sich mir in den Weg stellt.« Er senkte die Stimme. »Jeden!«
Die Worte hingen zwischen ihnen im Raum und es fühlte sich an, als wäre die Temperatur plötzlich um mehrere Grad abgefallen.
Ohne weitere Diskussionen packte Nicolai Mels Oberarm und zerrte sie mit sich zur Tür.
»Nein!«, entsetzt keuchte Mel auf und versuchte sich verzweifelt loszureißen. »Wo bringst du mich hin. Lass mich los!« Mel stemmte sich mit aller Kraft gegen ihn und begann zu schreien.
»Schluss!«, donnerte Nicolai, hob die Hand mit der Waffe und hielt sie erneut in Daves Richtung. Mel unterließ sofort jeglichen Widerstand. »Das hier funktioniert ganz einfach: Solange du kooperierst und ich kein Wort mehr höre, das mich nervt, passiert ihm nichts. Ansonsten ...« Er ließ offen, was dann geschah.
Mel schluckte schwer, blickte zwischen Nicolai und Dave hin und her und nickte dann. Ohne sich noch einmal zu ihm umzudrehen, verließ Nicolai die Scheune mit Mel im Schlepptau.
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Too Many Lies
Teen FictionBand 1 'Unbreakable Bonds' Mel hat Stress mit ihrem Vater. Nach einem besonders heftigen Streit, reicht es ihr und sie flüchtet zu einer Freundin. Doch auf dem Weg dorthin, geht alles schief, was schief gehen kann. Nach einer nervenaufreibenden Ody...