Kapitel 6

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Mel konnte ihr Glück immer noch nicht fassen. Nach dem katastrophalen Beginn des Tages hatte sich die Situation doch tatsächlich noch sehr positiv entwickelt. Nach dem Picknick und anschließend einigen Stunden Schlaf hatte sie sich deutlich besser gefühlt. Die drei Freunde schienen es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, sie den Tag über abzulenken. Was ihnen ziemlich gut gelungen war. Sie hatten Videospiele gespielt, Pizza bestellt, geredet und später am Abend einen Film geschaut.

Sie mochte das Trio auf Anhieb und genoss die gemeinsame Zeit, die freundschaftlichen Sticheleien und lachte viel. Liza und Dave hatten sie sofort herzlich bei sich aufgenommen, womit sie nicht wirklich gerechnet hätte. Einzig Matthew war ihr gegenüber etwas reserviert, aber dennoch freundlich und zuvorkommend. Es war entspannt und ungezwungen, als würden sie sich bereits seit Jahren kennen.

Während sie selbst geschickt jeglicher persönlichen Frage ausgewichen oder sie möglichst neutral und allgemein beantwortet hatte, ohne lügen zu müssen, hatte sie die drei Freunde neugierig ausgequetscht. Sie erfuhr, dass sie sich tatsächlich bereits von Kindesbeinen auf kannten. Früher hatten sie in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander gewohnt, bis Lizas Eltern ein Haus in einem anderen Stadtteil von Silver Valley gekauft hatten. Doch die Trennung hatte ihrer Freundschaft nicht geschadet. Immer noch verbrachten sie fast ihre gesamte Freizeit miteinander. Mel hatte den Anekdoten und Erzählungen gelauscht und sich köstlich amüsiert.

Inzwischen war Ruhe eingekehrt. Matthew und Liza hatten sich verabschiedet und waren nach Hause gefahren, Dave hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen. Mel lag nun in ihrem Bett, dick verpackt unter mehreren Decken und allein mit ihren Gedanken und Ängsten. Die halbe Nacht mit nassen Klamotten steckte ihr immer noch in den Knochen, trotz der heißen Duschen und der riesigen Kanne heißen Tee, die Dave ihr gemacht hatte.

Obwohl sie sich körperlich völlig erschöpft fühlte, wollte sich der Schlaf einfach nicht einstellen. Sie lag auf dem Rücken und starrte die Decke an. Die nervige Stimme des schlechten Gewissens hatte sie den Tag über erfolgreich vertreiben können. Aber nun, als es keinerlei Ablenkung mehr gab, meldete sie sich mit voller Kraft zurück und ein unangenehmer Druck breitete sich in ihrer Magengegend aus. Liza, Dave und Matthew waren unglaublich nett. Es verwunderte sie immer noch, dass sie ihr ohne mit der Wimper zu zucken so geholfen hatten. Und zum Dank hatte sie nichts Besseres zu tun, als sie nach Strich und Faden zu belügen. Kein besonders guter Beginn einer neuen Freundschaft.

Im Grunde hatte sie zwar genau das erreicht, was sie wollte. Sie war untergetaucht und hatte eine Schlafgelegenheit gefunden. Und nebenbei hatte sie noch nette Menschen kennen gelernt. Aber es fühlte sich gleichzeitig so falsch an. Wie weit konnte sie dieses Spiel treiben? Hätte sie nicht lieber gleich mit der Wahrheit herausrücken sollen? Es war eine spontane Entscheidung gewesen, diese Lügengeschichte zu erzählen. Sie hatte nicht groß darüber nachgedacht, schon gar nicht über die möglichen Konsequenzen. Sie hatte sich nur ausgemalt, wie die Reaktion ihres Vaters gewesen wäre, wenn sie ihn informiert hätte. Ein Anruf und er hätte sich sofort auf den Weg gemacht. Sie musste zugeben, dass sie genau davor Angst hatte. Vor seiner Reaktion, die sie sich sehr gut vorstellen konnte. Er wäre ausgerastet. Wahrscheinlich hätte er ihr auch kein Wort geglaubt, wenn sie ihm von dem Fremden und ihrer Amnesie erzählt hätte. Eher hätte er sie zur Polizei geschleift, damit sie sich den Konsequenzen ihres Fehlverhaltens stellte. Dass es eine Kurzschlussreaktion gewesen war, das Auto zu stehlen, würde ihn nicht interessieren. Genauso, wie ihn alles andere nicht interessierte, was sie sagte oder machte, das nicht in sein Weltbild passte.

Nein, die Wahrheit hätte sie nicht weitergebracht. Es hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Sie musste warten, bis ihre Mutter wieder da war, genauso, wie sie es von Anfang an geplant hatte. Vermutlich würde Dad ihre Abwesenheit sowieso nicht bemerken, weil er sich wieder in seiner Arbeit vergrub. So, wie er es immer gemacht hatte.

Mel seufzte schwer. Es bereitete ihr Bauchschmerzen, dass sie die Freunde damit weiter anlügen musste. Aber sie sah einfach keine Möglichkeit.

Und dann gab es da noch einen anderen Grund, der ihr ebenfalls Magenschnerzen bereitete. Wie war sie in dieses Auto gekommen? Und wer war der Fahrer? Inzwischen ärgerte sie sich, dass sie ihn sich nicht genauer angeschaut hatte, sondern gleich panisch geworden war. Vielleicht wäre dann die Erinnerung wieder hochgekomnen.

In Gedanken ging sie noch einmal die Szene durch, an die sie sich als letztes erinnerte. Sie durch die Stadt gelaufen, ziemlich planlos und ohne Ziel, und hatte über den Streit mit ihrem Vater nachgedacht. Hatte sie vielleicht irgendwo auf dem Weg jemand getroffen? Eine Mitfahrgelegenheit, an die sie sich nicht erinnerte? Aber warum war sie dann wieder Richtung San Francisco mitgefahren, wo sie doch eigentlich nach LA wollte? Nein, das passte nicht.

Die runzelte die Stirn, als sich der Nebel plötzlich ganz leicht zu lichten schien und ein schwaches Bild vor ihrem Auge auftauchte. Sie erinnerte sich an den Regen, der sie überrascht hatte und daran, dass sie in dieses Haus geflüchtet war. Es war kalt gewesen und ungemütlich. Unwillkürlich kuschelte sie sich noch tiefer in ihre Decken. Aber was war dann passiert? Wie und wo hatte sie den Fahrer kennengelernt? Und warum war sie in sein Auto gestiegen und mit ihm gefahren?

Mel stöhnte frustriert, als sie merkte, dass sich ihre Gedanken nur im Kreis drehten. Irgendwann übermannte sie doch die Müdigkeit und sie versank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.


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