Kapitel 17

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Seufzend ließ Professor Shatner die Hand mit dem Stift sinken und rieb sich mit der anderen über die Stirn. Vor ihm lag ein dicker Stapel Kursarbeiten, die er heute unbedingt korrigieren musste. Aber es funktionierte nicht. Nach einer erneuten schlaflosen Nacht war er ziemlich früh ins Büro gefahren, in der Hoffnung, sich durch Arbeit ablenken zu könnnen. Seit zwei Stunden saß er jedoch nun am Schreibtisch und hatte erst eine einzige verdammte Arbeit fertig gelesen. Ständig schweiften seine Gedanken ab, wanderten zurück zu dem Tag, an dem seine Tochter verschwunden war.

Wie hatte das alles nur so schiefgehen können?

Wie so oft seit diesem Tag blieb sein Blick an dem eingerahmten Foto hängen, das auf seinem Schreibtisch genau vor ihm stand. Es zeigte seine Familie, seine Tochter und seine Frau. Mel war auf dem Foto ungefähr sieben Jahre alt und strahlte über das ganze Gesicht. Sie war ein wunderhübsches Kind gewesen, dass zu einer bezaubernden jungen Frau herangewachsen war. Er erinnerte sich noch sehr gut an den Familienausflug, auf dem dieses Foto entstanden war.

Ein tiefer, trauriger Seufzer entfuhr ihm. Er hätte niemals so ausrasten dürfen. Schließlich war sie fast schon erwachsen und hatte bisher durchaus gezeigt, dass sie eine verantwortungsbewusste, junge Frau war. Aber insgeheim war sie immer noch sein kleines Mädchen, das er vor allen Gefahren der großen Welt versucht hatte, zu beschützen. Wobei er sich zugegebenernaßen nicht besonders geschickt angestellt hatte.

Er riss sich von dem Bild los und nahm einen Schluck von seinem inzwischen eiskalten Kaffee, um sich dann wieder der Arbeit zuzuwenden.

Als plötzlich das Telefon klingelte, zuckte er zusammen. Bevor er den Hörer abnahm, schloss er die Augen, um sich zu sammeln und zu hoffen, dass es der langersehnte Anruf war, der ihm mitteilte, dass seine Tochter wieder wohlbehalten zu Hause war.

Doch am anderen Ende der Leitung wartete keine gute Nachricht auf ihn, sondern eine böse Überraschung.

»Professor!«, sprach eine verstellte, aber eindeutig männliche Stimme. »Schön, Sie persönlich zu hören!«

Sofort war Professor Shatner in Alarmbereitschaft und richtete sich auf. »Wer spricht da?«

»Jemand, der weiß, wo Ihre Tochter ist.«

»Mel?« Der Professor keuchte überrascht. »Wo ist sie? Wie geht es ihr?«

»Sie ist in guten Händen. Aber lange nicht mehr. Vor allem dann nicht, wenn Sie die Polizei einschalten!«

Eiseskälte kroch seine Wirbelsäule hinauf. »Was? Ich ... verstehe nicht! Was wollen Sie? Wer sind Sie?«

»Wer ich bin, tut erstmal nichts zur Sache, Professor. Hören Sie mir nun genau zu! Ihrer Tochter wird nichts geschehen. Sie werde sie wiedersehen, wenn Sie meine Forderungen erfüllt haben. Nicht eher.«

»Welche Forderungen?« Seine Stimme war nicht mehr, als ein Flüstern.

»Wie viel ist Ihnen Ihre Tochter wert? Sagen wir eine viertelmillionen Dollar?«

Sein Herz stolperte und er keuchte auf. Der Typ meinte es tatsächlich ernst.

»Was immer Sie wollen! Wenn nur Mel nichts geschieht!«

Der Anrufer lachte düster. »Sehr gut. Damit haben wir schon einmal eine gute Basis. Ich erwarte Sie morgen früh um fünf Uhr, südlich von San Francisco. Am Highway 101 befindet sich ein Aussichtspunkt, der San Antonio View Point. Kommen Sie dorthin, mit dem Geld in bar. Und denken Sie daran, keine Polizei. Wenn Sie sich nicht daran halten, wird es sich schlecht auf den Gesundheitszustand Ihrer Tochter auswirken. Also kommen Sie besser gar nicht erst auf die Idee! Verstanden?«

»Verstanden«, stammelte der Professor.

Die Leitung erstarb, der mysteriöse Anrufer hatte aufgelegt.

Schockiert legte Professor Shatner den Hörer beiseite und starrte das Telefon an. Er versuchte die Worte des Anrufers zu begreifen. Mel. Entführt. Das Geld war nicht das Problem. Das hatte er schnell aufgetrieben.

Und dann diese Stimme. Die ihm so bekannt vor kam. Ein vages Bild zeigte sich vor seinem inneren Auge. Er schüttelte den Kopf. Nein, das konnte niemals möglich sein.

Erschrocken zuckte er zusammen, als das Telefon erneut klingelt. Hektisch hob er ab, ohne auf die Nummer zu achten, in der Erwartung, dass der Unbekannte erneut anrief.

»Ja? Was wollen Sie noch?«

Stille. Dann ertönte ein Räuspern. »So wurde ich schon lange nicht mehr begrüßt.«

Professor Shatner sackte in sich zusammen und stieß hart die Luft aus, als er die Stimme seines Freundes erkannte.

»Arthur? Ist alles in Ordnung?«

Er schluckte hart und räusperte sich. »Hallo Rick«, es gelang ihm überraschend gut, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. »Was kann ich für dich tun?«

Der Anrufer zögerte kurz. »Eigentlich wollte ich mit dir über die bisherige Suche nach deiner Tochter reden. Aber ich habe das Gefühl, dass da bei dir gerade etwas anderes im Busch ist, was dir mehr Sorgen bereitet. Was ist passiert?«

Keine Polizei.

Die Worte des Anrufers hallten in seinem Kopf wieder und er fluchte innerlich. Ausgerechnet die Polizei musste er jetzt am Apparat haben. Richard Farley war Inspektor beim San Francisco Police Departement und ein alter Schulfreund von ihm. Er hatte ihm den Gefallen getan, die Suche nach Mel zu koordinieren und ihn auf dem Laufenden zu halten.

»Nichts. Ich habe nur Ärger mit den Technikern hier.«

Farley schnaubte abfällig. »Mein Freund, du warst schon immer ein miserabler Lügner. Spucks schon aus! Was ist passiert?«

Professor Shatner fuhr sich durch die Haare. »Ich bin einfach nur am Ende, Rick. Du wolltest mit mir über die Suchaktion sprechen. Was gibt's Neues?«

Farley ging glücklicherweise auf den Themenwechsel ein. »Wir haben ihre Spur verfolgt. Sie hat einen Fernbus in Richtung Los Angeles genommen. Allerdings hat sie bar bezahlt, also können wir nicht nachverfolgen, wie weit sie gefahren ist. Dass sie den Bus genommen hat, wissen wir auch nur auf Grund der Kameras am Bahnhof.«

»Los Angeles?«, verwundert hörte Professor Shatner die Information. »Also hatte sie tatsächlich vor, ihre Freundin Amy dort zu besuchen.«

»Vielleicht, aber Amy hatte keinen Kontakt zu ihr. Das haben wir bereits überprüft. Mel ist vermutlich nie in Los Angeles angekommen.«

»Was ist mit ihrem Handy?«

»Die Spur verliert sich in Bakersfield.«

Der Professor schloss die Augen und biss sich auf die Lippen, um den frustrierten Laut zu unterdrücken. »War sie alleine, als sie in den Bus gestiegen ist? Habt ihr jemand Verdächtigen auf den Überwachungsbändern entdeckt?«

Es dauerte etwas, bis die Antwort kam. »Warum habe ich das Gefühl, dass die Fragen einem ganz bestimmten Zweck dient?«

»Rick, bitte! Beantworte sie einfach!«

»Sie war allein, soweit wir das erkennen konnten«, brummte sein alter Freund missmutig.

»Okay, danke. Entschuldige mich. Ich hab noch viel zu tun. Wir hören voneinander.« Bevor sein Gesprächspartner die Chance hatte, etwas zu erwidern, legte Professor Shatner auf. Kraftlos ließ er den Arm sinken, lehnte sich zurück und lehnte den Kopf in den Nacken. Er starrte an die Decke, als würde dort die Lösung für alle Probleme zu finden sein. Einen kurzen Moment gönnte er sich den Augenblick, in seiner Verzweiflung zu versinken.

Dann riss er sich zusammen und richtete sich wieder auf. Das Lösegeld mussten beschafft werden. Er hatte noch viel zu tun.


Too Many LiesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt