Kapitel 23

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Auch wenn die vorhergehende Nacht wenig erholsam und der Tag ereignisreich gewesen war, lag Matthew an diesem Abend noch Stunden wach und fand keine Ruhe. Seine Gedanken kreisten unablässig um das, was passiert war und mit jeder Stunde, in der nichts passierte und sie kein Lebenszeichen ihrer Freunde erhielten, stieg seine Sorge und seine Wut. Er hasste es so sehr, zur Untätigkeit verdammt zu werden. Nicht nur, weil er nichts tun konnte, sondern weil er einen nicht unbedeutenden Anteil an dem ganzen Mist hatte. Hätte er Mel nicht so provoziert, hätte sie niemals das Diner verlassen. So sehr er sich auch im Recht gefühlt hatte, so sehr bereute er sein Verhalten an diesem Abend. Und das nicht allein nach Lizas Kopfwäsche. Wie gern würde er die Uhr zurückdrehen und noch einmal von vorne beginnen.

Inspector Farley war am Abend noch einmal vorbeigekommen und hatte sie über die aktuellen Ermittlungsergebnisse informiert. Er hatte die Aufnahme einer Überwachungskamera besorgt, die den Parkplatz vor dem Diner in Silver Valley abdeckte und auf der sie gut beobachten konnten, was an dem Abend passiert war. Man sah, wie Mel den Parkplatz überquerte, als plötzlich ein Mann hinter ihr auftauchte, sie überwältigte und in einen Van beförderte, der direkt neben den beiden gehalten hatte. Zur gleichen Zeit war Dave aus dem Gebäude getreten und war Mel zu Hilfe geeilt. Hatte er wirklich geglaubt, gegen die Typen aich nur den Hauch einer Chance zu haben? Dieser Idiot!

Matthew war sich ziemlich sicher, den Van wiedererkannt zu haben. Auch, wenn ihnen das nicht viel weiterhalf. Zwar war das Nummernschild in der Aufnahme gut zu erkennen, es gehörte jedoch eigentlich zu einem Pickup aus San Francisco. Zudem waren weder der Fahrer, noch der Typ, der Mel und Dave überwältigt hatte, zu erkennen.

Bei der Frage, wer die Entführer waren, hatte sich dagegen eine interessante neue Spur ergeben. Der Anrufer hatte zwar einen Stimmverzerrer genutzt und die Nummer hatte nicht zurückverfolgt werden können, der Professor war sich aber relativ sicher, die Stimme wiedererkannt zu haben. Die gesuchte Person war jedoch seit Monaten untergetaucht.

Es war zum Verzweifeln. Weiterhin gab es keinerlei Anhaltspunkt, wo Mel und Dave sich befanden und alle Spuren führten ins Leere. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als auf die Übergabe zu warten und zu hoffen, dass sie der Polizei dort in die Falle gingen.

Wenn er ehrlich war, hatte er jedoch auch hier wenig Hoffnung. Warum sollten die Entführer so dumm sein, sich offen zu zeigen?

Ein leises Klopfen ließ ihn aufhorchen. Die Tür zu seinem Zimmer öffnete sich fast lautlos und Liza erschien im Türrahmen.

»Hey«, flüsterte sie. »Du bist noch wach?«

Matthew setzte sich alarmiert auf. »Alles in Ordnung?«

Sie zögerte kurz, dann trat sie ins Zimmer. Leise schloss sie die Tür hinter sich und lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen dagegen. Sie trug ein viel zu großes T-Shirt, unter dem knappe Shorts hervorschauten. Fast ein wenig scheu strich sie eine Strähne hinter das Ohr. »Ich kann nicht schlafen. Sobald ich die Augen schließe, kommen die Alpträume.«

Alpträume waren schon seit früher Kindheit Lizas ständiger Begleiter und traten in belastenden Situationen besonders häufig und intensiv auf. Es wunderte Matthew also nicht, dass sie nicht schlafen konnte. Sie sprach eigentlich nie darüber, was genau sie träumte, aber er hatte sie schon häufig genug selbst aus einem der Träume wecken müssen. Und das, was sie dann am wenigsten ertragen konnte, war allein sein.

Einladend klopfte er neben sich auf die Matratze. Liza verharrte einen Augenblick, als würde sie überlegen, ob es eine gute Idee war. War es nicht, dessen war er sich selbst ziemlich sicher. Sie neben sich im Bett liegen zu haben, würde seine gesamte Selbstbeherrschung fordern. Es kostete ihn bereits jetzt alles, nicht auf ihre nackten Beine zu starren, die in den kurzen Shorts nur zu gut zu Geltung kamen. Aber wieder einmal siegte sein Beschützerinstinkt, über den sich Liza immer so gern aufregte.

Das hieß allerdings nicht, dass er unbedingt etwas herausfordern wollte. Deswegen überließ er ihr die Decke. Liza schlüpfte darunter und legte sich ihm zugewand auf die Seite.

Jetzt kam es ihm zugute, dass er vorhin die Vorhänge nicht ganz zugezogen hatte. Das Mondlicht schien in sein Zimmer und ermöglichte es ihm, ihre vertrauten Gesuchtszüge zu betrachten.

»Danke«, murmelte sie.

Er lächelte und auch ihre Mundwinkel hoben sich.

»Warum bist du noch wach?«

Er zuckte unbestimmt mit den Schultern. »Meine Gedanken kommen auch nicht zur Ruhe«, gestand er.

Sie musterte ihn und kniff plötzlich die Augen zusammen. »Lass mich raten: Du gibst dir die Schuld an allem?«

Verdammt! Sie kannte ihn einfach viel zu gut. Matthew erwiderte nichts darauf, aber natürlich wusste sie, dass sie voll ins Schwarze getroffen hatte.

Liza richtete sich leicht auf, sodass sie auf ihn herabschaute. »Du weißt, dass das völliger Blödsinn ist?«

Er seufzte tief, drehte sich auf den Rücken und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. »Du kannst nicht leugnen, dass der Abend eine Katastrophe war und ich mich wie das letzte Arschloch verhalten habe. Ich hätte sie nicht so angehen dürfen.«

»Da stimme ich dir zu, aber dann hätten die Entführer eine andere Gelegenheit genutzt.« Sie legte sich wieder hin und ihr Blick wurde weicher. »Wir hätten es nicht verhindern können.«

Ja, vielleicht. Nein, ganz sicher. Eine Stimme in seinem Kopf bestätigte, dass Liza vollkommen recht hatte. Er hätte es nicht verhindern können. Vielleicht wäre es sogar noch übler ausgegangen. In seiner Horrorvorstellung wäre nicht Dave, sondern Liza in diesen Van gezerrt worden. Oder womöglich beide. Dann wäre er nun völlig alleine und die beiden Menschen, die ihm mit am meisten bedeuteten, wären in Gefahr.

»Hey!« Kalte Finger legten sich auf seine Stirn und fuhren sanft über seine Haut. »Diese Falte da gefällt mir nicht«, murmelte sie.

Er schloss die Augen, schob alle bösen Gedanken in die hinterste Ecke seines Bewusstseins und genoss die Berührung. Mehr als er eigentlich dürfte.

»Wir werden unseren verpassten Strandtag noch nachholen«, sagte sie unvermittelt. »Sehr bald. Und unseren Urlaub haben wir auch noch nicht geplant. Ich bin immer noch für die Wandertour im Yosemite. Und auf dem Rückweg könnten wir noch einen Abstecher zu einer verlassenen Goldgräberstadt machen.«

Er schmunzelte und wandte sich ihr wieder zu. Ihre Hand legte sich warm und weich auf seine Wange. »Seit wann hast du den Job des unverbesserlichen Optimisten übernommen?«

»Seit der eigentliche Amtsinhaber unpässlich ist.« Sie zog ihre Hand wieder zurück und Matthew musste sich zusammenreißen, um nicht zu protestieren.

»Es wird alles gut gehen«, sagte sie, wirkte dabei aber eher, als wolle sie sich selbst mit diesen Worten beruhigen.

Matthew nickte nur.

»Wir sollten jetzt versuchen zu schlafen«, sagte er.

Lizas Augen waren bereits zugefallen. Sie nickte, zog die Decke noch ein Stückchen höher und kuschelte sich tiefer ins Kissen.

Nur zu gern hätte er die Distanz überbrückt und sie in seine Arme gezogen. Stattdessen griff er nach ihrer Hand, die zwischen ihnen lag. Lizas Finger schlossen sich wie automatisch um seine und sofort fühlte er, wie sich eine tiefe Ruhe über ihn legte.

Er seufzte lautlos. Vielleicht war es langsam an der Zeit, etwas anzusprechen, was er schon viel zu lange vor sich herschob.

Aber nicht mehr heute.

Er schloss die Augen und war innerhalb weniger Sekunden eingeschlafen.




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