Kapitel 4

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Keine halbe Stunde später folgte Mel dem blonden Jungen die Treppe hinauf in den ersten Stock. Neugierig sah sie sich um. Das, was sie bisher von Daves Elternhaus gesehen hatte, gefiel ihr. Es war schlicht eingerichtet, aber dennoch in keinster Weise kühl. Eingerahmte Fotos säumten den Weg nach oben. Auf fast allen war Dave zu sehen. In allen möglichen Altersstufen, beim Sport, mit Gleichaltrigen oder Erwachsenen. Auf einigen waren auch Matthew und Liza zu erkennen und die Fotos verrieten ihr, dass die drei Freunde sich bereits seit der Kindheit kannten. Auf mehreren Fotos erkannte Mel eine Frau mit blonden halblangen Haaren und rundem Gesicht. Vor allem die Augen der Frau zeigten unverkennbar, dass es sich bei ihr um Daves Mutter handeln musste.

»Hier oben gibt es vier Räume«, erklärte ihr Dave, als sie das Stockwerk erreicht hatten. Schnell wandte Mel sich von den Bildern ab, aber er schien ihre neugierigen Blicke nicht bemerkt zu haben. »Die erste Tür hier ist mein Zimmer, gegenüber das Bad und das Schlafzimmer meiner Mom.« Er deutete auf die jeweiligen Türen und blieb dann an einer vierten stehen und öffnete sie. »Und das hier ist das Gästezimmer. Das Bett ist nicht bezogen, aber das erledige ich gleich noch.«

Mel blinzelte überrascht und starrte ihn an. Hatte er ihr gerade tatsächlich das Gästezimmer angeboten?

»Du lässt mich hier übernachten?«, hakte sie nach. »Einfach so? Du kennst mich doch gar nicht.«

Er legte den Kopf schief. »Ich dachte erstmal daran, dass du dich eventuell jetzt hinlegen willst. Entschuldige die offenen Worte, aber du siehst aus, als würdest du gleich im Stehen einschlafen. Das Zimmer ist frei, dort hast du ein wenig Privatsphäre für dich. Es steht dir solange zur Verfügung, wie du es brauchst.« Er zwinkerte ihr zu. »Und ja, einfach so.«

Sein Blick wanderte zu ihrer Stirn. Zu der Stelle, die Mel sich immer noch nicht hatte anschauen können, die aber offenbar ziemlich übel aussah. »Bist du dir sicher, dass du keinen Arzt brauchst?«

Mel nickte entschieden. »Es sieht schlimmer aus, als es ist, wirklich.« Liza hatte sie bereits mit sehr kritischem Blick gemustert und die Versorgung ihrer Stirn übernommen.

Tatsächlich war die Kopfverletzung Mels kleinstes Problem. Ja, sie hatte ziemliche Kopfschmerzen, aber das konnte auch von der Tatsache her kommen, dass sie die Nacht und den gestrigen Tag alles andere als entspannt verbracht hatte. Da ihr nicht übel war und sie auch keine Sehstörungen hatte, sah sie keine Notwendigkeit, einen Arzt aufzusuchen. Und auch wenn Liza nur Schulsanitäterin war, schien auch sie erkannt zu haben, dass es sich nicht um einen Notfall handelte.

Dave schien hingegen nicht ganz überzeugt, aber er wandte sich ohne weitere Nachfragen ab und ging zu einer fünften Tür am Ende des Flurs. Dahinter verbarg sich ein großer Wandschrank, in dem allerlei Textilien fein säuberlich gestapelt waren. Mit Handtüchern wandte er sich ihr wieder zu.

»Du willst sicher so schnell wie möglich duschen. Liza wird dir die Klamotten hochbringen, sobald sie mit Matthew hier ist.«

Mel nickte einfach nur. Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit dieser bedingungslosen Hilfsbereitschaft und der Selbstverständlichkeit, mit der ihr nicht nur ein Schlafplatz anboten wurde. Auch Lizas Vorschlag, ihr trockene Kleidung zu besorgen, hatte sie völlig überrumpelt.

Mel räusperte sich und nahm die Handtücher entgegen. »Haben deine Eltern nichts dagegen, dass du mich hier einfach so aufnimmst? Vielleicht sollten wir sie erst fragen.« Sie musste daran denken, wie ihr Vater reagieren würde, wenn sie jemandem Wildfremden das Gästezimmer anbieten würde. Er würde wenig begeistert sein. Und das wäre noch die Untertreibung des Jahrhunderts.

Aber Dave zuckte nur unbekümmert mit den Achseln. »Aktuell bin ich hier der Hausherr, also ist es okay. Meine Mom ist mit ihrem Lebensgefährten für vier Wochen auf einer Tour durch Europa. Mach dir darüber mal keine Gedanken.« Er zögerte kurz, entschied sich dann aber für eine weitere Erklärung. »Bei Liza ist kein Platz und Matthews Eltern sind was das angeht ein wenig strenger. Also ist es nur logisch, dass du hier unterkommst. Und es ist wirklich kein Problem. Wäre Mom hier, würde sie ganz genauso handeln. Alle Unklarheiten jetzt beseitigt?«

»Danke«, gelang ihr eine schwache Antwort.

Dave lächelte. »Nicht dafür. Lass dir ruhig Zeit. Wenn du noch was brauchst, ich bin unten. Für Essen ist nachher gesorgt. Wir werden unser Picknick vom Strand einfach in den Garten verlegen.«

Noch ein Punkt, über den sie nachdenken musste und der ihr sehr unangenehm war. Wie selbstverständlich hatten die drei ihre Pläne geändert und stellten sich jetzt offenbar darauf ein, den Tag mit ihr zu verbringen.

Aber bevor sich sich dafür entschuldigen konnte, hatte Dave sie bereits allein gelassen und war ins Erdgeschoss verschwunden.

Sie betrat das Zimmer, das genau wie der Rest des Hauses schlicht, aber dennoch gemütlich eingerichtet war. Ein kleiner Tisch mit einem Sessel direkt vor dem Fenster, ein Bett mit einer bunten Tagesdecke, eine Kommoden, auf der eine weiße Vase mit Trockenblumen stand.

Mel ging zum Bett und ließ sich mit einem tiefen Seufzer zurückfallen. Alle Anspannung der letzten Stunden fiel auf einmal von ihr ab und sie fühlte sich völlig ausgelaugt. Dave hatte mit seiner Einschätzung völlig Recht. Es wäre wahrscheinlich besser, wenn sie sich hinlegen würde. Die vielen Stunden in dieser kleinen Höhle, in der sie vor lauter Angst kein Auge zugetan hatte und bei jedem kleinsten Geräusch zusammengezuckt war, hatten sie völlig erschöpft. Und die Stunden davor waren auch nicht ohne gewesen. Sofern sie das überhaupt beurteilen konnte.

Sie hatte während der Nacht genug Zeit gehabt, ihre Gedanken zu sortieren. Und das Ergebnis war immer gleich: Ihr fehlten mehrere Stunden. Sie erinnerte sich noch an Bakersfield, an die Katastrophe mit ihren Wertsachen - die sie leider nicht geträumt hatte, wie zuerst gehofft. Noch in Matthews Auto hatte sie sich davon überzeugt, dass ihr Handy und ihre Geldbörse wirklich fehlten. Sie wusste auch noch, dass sie sich vor dem Regen in das fremde Haus geflüchtet hatte. Und das war das letzte, an das sie sich erinnerte.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich sofort, als sie daran zurückdachte, wie sie aufgewacht war. Mit schrecklichen Kopfschmerzen und Übelkeit. Und kaum hatte sie die Augen geöffnet, hatte sie auch gewusst, dass sie in großen Schwierigkeiten steckte. Das Auto, auf dessen Beifahrersitz sie saß, war ihr unbekannt. Draußen war es stockdunkel, leichter Regen war aufs Wagendach geprasselt. Sie war allein gewesen. Der Fahrersitz neben ihr war verwaist, aber die Wagenschlüssel steckten im Schloss. Den Fahrer hatte sie erst nach einigen Augenblicken bemerkt. Er hatte einige Meter neben dem Wagen gestanden und telefoniert. Ein Mann, der sich nicht daran zu stören schien, dass es regnete und er nass wurde. Sie hatte nicht gehört, worum es in dem Telefonat ging. Dafür war der Regen zu laut und der Mann sprach zu leise. Aber die Körpersprache hatte ihr verraten, dass er in irgendeiner Form aufgeregt war. Wütend vielleicht?

Mel drehte sich auf dem Bett zur Seite und rollte sich zu einer kleinen Kugel zusammen, während die Emotionen noch einmal hochkamen. Sie hatte noch nie in ihrem Leben solche Angst gehabt und kaum gewagt, sich zu rühren. Es gab nur einen einzigen Gedanken: Weg hier.

Als er dem Wagen den Rücken zukehrte, hatte sie die Chance genutzt, sich auf den Fahrersitz gezogen, den Wagen gestartet und war mit durchdrehenden Reifen losgefahren. Wohin, war ihr egal gewesen. Sie wollte einfach nur möglichst viele Meilen zwischen sich und den Unbekannten bringen. Dass die Fahrt dann nach viel zu kurzer Zeit an der Felswand geendet hatte, war schreckliches Pech gewesen.

Und jetzt war sie hier. Und dieses Hier musste den Straßenschildern nach, die sie auf der Autofahrt gesehen hatte, irgendwo im Monterey County sein. Das hieße, dass ihr Entführer mit ihr wieder zurück in Richtung San Francisco gefahren war.

Sie setzte sich stöhnend auf und strich das lange Haar zurück.

Sie würde Fragen beantworten müssen, das war klar. Die drei Freunde hatten sich bisher bemerkenswert zurückgehalten. Unsicher war sie sich jedoch, inwieweit sie diese beantworten sollte. Und konnte.

Ihr Magen gab ein unmissverständliches Knurren von sich.

Ein Schritt nach dem anderen, wiederholte sie in Gedanken Lizas Worte.

Ersteinmal musste sie unter die Dusche und frische Kleidung anziehen. Dann etwas essen und trinken. Und danach würde sie weitersehen. Irgendwie. Schlimmer konnte es schließlich nicht kommen.

Too Many LiesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt