Kapitel 19

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»Monica? Wo bist du?« Eine dunkle Männerstimme hallte durch das Haus. Kurz zuvor war die Haustür lautstark aufgerissen worden.

Mrs Shatner stand in der Küche und machte Pfannkuchen, während Matthew und Liza es sich auf den Barhockern am Küchentresen bequem gemacht hatten.

Sie legte den Löffel beiseite und rief stirnrunzelnd: »Hier, in der Küche.«

Sekunden später stürmte ein großgewachsener Mann durch die Tür, den Matthew fast sofort als Mels Vater identifiziert hatte. Die Ähnlichkeit mit Mel war jedenfalls nicht zu leugnen. Abgesehen davon, dass er keine Haare mehr auf dem Kopf hatte. Dafür aber genug im Gesicht. Der braune Vollbart war mit vereinzelten silbernen Haaren durchzogen. Er trug eine dicke Brille mit schwarzem Rahmen und zur legeren Jeans und weißem T-Shirt ein graues Jackett. Er wirkte aufgebracht. Sein Blick irrte nervös hin und her, seine Bewegungen waren fahrig.

Mrs Shatner war von seinem Zustand sichtlich erschrocken. »Arthur? Was ist passiert?«

Mels Vater wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als er Matthew und Liza bemerkte. »Wer seid ihr?«

Seine Frau stellte sie vor und erklärte in knappen Worten, warum sie hier waren.

Verwirrung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. »Melanie war bei euch? Wie lange?«

»Bis gestern«, bestätigte Matthew. »Erst da haben wir die Wahrheit erfahren und sie zur Rede gestellt. Sie war sehr aufgebracht und ist abgehauen. Unser Freund Dave ist ihr hinterher, um mit ihr zu reden. Aber beide sind spurlos verschwunden.«

Der Professor starrte sie noch eine Weile an. Dann schloss er die Augen und stieß hart den Atem aus. Er fuhr sich über die Glatze und wirkte völlig am Ende seiner Kräfte.

Besorgt legte seine Frau ihm eine Hand auf den Oberarm. »Ich habe versucht dich zu erreichen. Aber du bist nicht ans Handy gegangen.«

Er nickte. »Ich hatte zu tun und nicht mehr darauf geachtet.«

Sie musterte ihn aufmerksam. »Was ist passiert?

Er griff nach ihrer Hand, als wolle er sich daran festhalten. »Ich habe vorhin einen Anruf erhalten. Melanie wurde entführt.«

Die Worte schlugen ein, wie eine Bombe. Damit hatten sich ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet. Für einen kurzen Moment schloss Matthew die Augen und versuchte, die aufsteigende Übelkeit niederzukämpfen und sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er spürte, wie Liza sich neben ihm versteifte und einen undefinierbaren Laut ausstieß, der irgendwo zwischen Schluchzen und Stöhnen lag. Automatisch griff er nach ihrer Hand. Nicht allein, um ihr Halt zu geben, er benötigte ihn mindestens genauso dringend.

Aus Mrs Shatners Gesicht war jegliche Farbe gewichen. Entsetzt hielt sie sich die Hand vor den Mund. »Aber warum?«, begann sie zu stammeln. »Was wollen die Entführer?«

»Geld«, presste Professor Shatner kraftlos hervor.

»Was ist mit Dave?«, hakte Liza nach. »Hat der Entführer von einer weiteren Person gesprochen?«

Professor Shatner sah sie nachdenklich an und schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, es war nur von Mel die Rede. Seid ihr euch sicher, dass er bei ihr ist?«

»Es ist die einzige Erklärung. Er ist zur gleichen Zeit spurlos verschwunden, wie sie. Und sein Handy lag zerstört auf dem Parkplatz. Es muss ihm aus der Tasche gefallen sein.«

»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Mrs Shatner verzweifelt.

»Ich habe bereits alles besorgt, was der Entführer gefordert hat", erklärte ihr Mann. "Morgen früh um fünf werde ich es ihm übergeben und dann Mel nach Hause bringen. Und euren Freund auch.«

Sie schüttelte skeptisch den Kopf. »Und was ist, wenn etwas schief geht? Oder der Entführer gar nicht vor hat, sich an die Abmachung zu halten? Nein, du solltest das nicht alleine machen, Arthur! Informiere Rick! Er wird dir helfen können! Bitte!«

Flehend sah sie ihn an. Doch er bekam keine Gelegenheit mehr zu Antworten, denn in diesem Moment klingelte es an der Tür.

Alle zuckten zusammen, als würden sie erwarten, dass der Entführer höchstpersönlich vor der Tür stand. Mrs Shatner löste sich als erste aus der Starre und ging zur Tür. Sie kehrte zusammen mit einem untersetzten Mann mit kräftigen Schultern und schwarzen, kurzgeschorenen Haaren zurück, der seine geringe Körpergröße durch seine autoritäre Ausstrahlung wett machte. Stirnrunzelnd blickte er in die Runde.

»Nanu, was ist denn hier für eine Versammlung?«

»Was tust du hier?« Der Tonfall des Professors war hart und sorgte dafür, dass die Falten auf der Stirn des Neuankömmlings noch tiefer wurden.

Er verschränkte die Arme vor der Brust und zeigte sich unbeeindruckt. »Einen alten Freund besuchen, der mich vorhin am Telefon schon abgewimmelt hat und offenbar in Schwierigkeiten steckt.«

»Hast du nichts zu tun?«, fuhr der Professor ihn an.

Mrs Shatner baute sich vor ihrem Mann auf und funkelte ihn an. »Arthur, komm zur Vernunft! Wenn du ihm nichts sagst, tu ich es!«

Doch er sah nicht aus, als würde er nachgeben wollen. Mit finsterer Miene fixierte er den Mann und ignorierte seine Frau dabei völlig. »Du hättest nicht kommen brauchen, Rick. Es gibt hier nichts, wobei du uns helfen könntest.« Er unterbrach seine Frau, die gerade Luft holte, mit einer Handbewegung. »Auch, wenn Monica da anderer Meinung ist. Geh lieber wieder an die Arbeit und kümmer dich um die wirklichen Verbrechen in dieser Stadt.«

Mit angehaltenem Atem beobachteten Matthew und Liza das stumme Blickduell, das sich die beiden Männer lieferten. Wer dieser Mann wohl war? Offenbar jemand, der zum jetzigen Zeitpunkt - anders als normalerweise - absolut unerwünscht war. War er Polizist? Das würde die Reaktion des Professors erklären und auch seine letzten Worte.

Wer auch immer er war, er ließ sich vom Auftreten des Professors nicht im geringsten beeindrucken. Ungerührt stand er in der Küche und wartete einfach nur ab. Als der Professor jedoch selbst nach endlos langen Minuten nicht reagierte, brach er das Schweigen.

»Mel ist entführt worden«, sprach er mit ruhiger Stimme. »Hab ich Recht?«

Die einzige Regung im Gesicht des Professors war das winzige Zucken der Augenlider. Mrs Shatner keuchte auf und wandte sich ab, ihre Schultern begannen zu beben. Als die ersten Schluchzer zu hören waren, bröckelte die unnahbare Fassade ihres Mannes und brach schließlich völlig in sich zusammen. Mit einem langen Schritt war er bei ihr und schloss sie in die Arme. Die Eiseskälte in seinem Gesicht wich einem anderen Ausdruck - purer Angst und Verzweiflung. Matthew hatte den Eindruck, als wäre er plötzlich um Jahre gealtert.

»Keine Polizei, hat er gesagt«, murmelte Professor Shatner über die Schulter seiner Frau hinweg. »Ansonsten tut er ihr etwas an. Was hätte ich denn tun sollen, Rick? Er hat meine Tochter in seiner Gewalt!« Mit jedem Wort war seine Stimme verzweifelter geworden.

Der Angesprochene nickte nur, in den Augen tiefes Verständnis, aber auch eine Professionalität, die Matthews Verdacht erhärtete. »Ich habe es mir bereits gedacht. Dein Verhalten vorhin und die Fragen, die du gestellt hast, haben mich misstrauisch gemacht.«

Nun wandte der Unbekannte sich das erste Mal direkt an Matthew und Liza. »Inspektor Farlay«, stellte er sich vor und hielt ihnen seine Hand hin. »Normalerweise bei der Mordkomission beim SFPD. Aber für einen alten Freund übernehme ich auch gerne Vermisstenmeldungen.«

Matthew stellte sich und Liza vor. »Mel war bei uns. Zumindest von Samstag bis gestern Abend. Dann ist sie spurlos verschwunden.«

Der Inspektor schaute alle Anwesenden der Reihe nach an. »Ich will alles wissen. Jedes kleinste Detail. Nur so kann ich Mel wirklich helfen. Ich würde vorschlagen, wir gehen rüber ins Wohnzimmer und reden dort weiter.«

Mrs Shatner, die sich inzwischen wieder beruhigt hatte, löste sich von ihrem Mann und wischte sich über die Augen. »Ich kümmere mich um Getränke und etwas zu essen. Geht schon rüber.«

Ein warmes Lächeln, das ihn gleich sympathischer machte, erschien im Gesicht des Inspektors. »Danke, Monica.«

Too Many LiesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt