[22] XXII. Auf den Kopf gestellt

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Chris konnte nicht glauben, dass er nach all dieser Zeit ausgerechnet jetzt hier lang lief. So viel war passiert und so viel hatte sich verändert und es hätte viele Möglichkeiten gegeben, mit ihm zu sprechen. Aber jetzt war das erste Mal, dass er mit ihm sprechen musste. Für sein eigenes Gewissen. Für Bianca.

Xuans Worte gingen Chris nicht mehr aus dem Kopf. Vielleicht lag sie falsch, aber Chris tat nun das, was er schon viel früher hätte machen können - er ging zu seinem Vater. Er wollte ihm Fragen stellen, mit ihm reden. Von ihm die Wahrheit erfahren.

Er war vor der Tür angekommen, zögerte nicht lange und drückte auf die Klingel. Es surrte und Chris stellte fest, dass sein Vater so wie früher nicht danach gefragt hatte, wer es war. Oben bei seinem Vater angekommen musste er nochmal klingeln. Als die schweren Schritte im Flur zu hören waren, schlug sein Herz ein wenig schneller, aber er versuchte sich, seine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Die Tür wurde geöffnet. Verschlafen und im Morgenmantel blickte ihm sein Vater entgegen. Erst fragend. Als er Chris erkannte, wurden seine Augen groß und er lächelte.

»Christian!«, rief er und öffnete die Arme. »Komm doch rein!«

Ein dezenter Geruch nach Wein erfüllte die kleine Wohnung. Abgesehen davon war es aber nicht so schlimm, wie Chris es in Erinnerung hatte.

Er beobachtete die schlurfenden Schritte seines Vaters und folgte ihm.

»Mein Großer, willst du etwas essen? Du bist so ein prächtiger Mann geworden.« Väterlicher Stolz schwang in seiner Stimme mit. War es so lang her gewesen, als Chris das letzte Mal da gewesen war?

»Ich wollte eigentlich nichts essen, nein«, antwortete Chris. Die fröhliche Miene seines Vaters schien kurz zu verblassen, bis sie wieder erstrahlte.

»Doch natürlich, mein Großer! Ich wusste, dass du irgendwann nach Hause kommen würdest. Willst du Spinat mit Kartoffeln? Das hast du doch früher immer so gerne gegessen. Ist auch gut für deine Muskeln.« Er stupste mit seiner Hand gegen Chris' Arm.

Dieser schaute auf den Boden. Warum hatte er seinen Vater nicht schon früher besucht? Nach dem Rechten gesehen? Doch er wusste warum. Schon als Chis' Mutter gestorben war, war Johanns psychische Stabilität ins Wanken geraten. Doch als auch noch sein bester Freund Thomas Vahling kurz danach starb, war er unerträglich geworden. Er hatte getrunken und Chris ständig irgendwo vergessen, sich nicht gekümmert, bis Chris irgendwann selbstständig mit Heiner, Johanns Bruder, geredet und dieser ihm vorgeschlagen hatte, zu ihm zu ziehen.

»Du wagst es nicht!«, dröhnte Johanns Stimme durch die Wohnung. »Christian. Wo hast du dich versteckt? Komm her!«

Chris hockte zusammengekauert in seinem Schrank und hoffte, dass er ihn nicht finden würde.

»Ich bin dein Vater! Jetzt komm doch endlich her, verdammt!« Die Stimme war laut und so schneidend, dass Chris anfing, zu weinen. Ein Scheppern ertönte aus dem Wohnzimmer, dann ein Aufschrei und dann wieder ein Scheppern.

»Chris. komm. her!« Nach jedem Wort erfüllt ein Glassplittern die darauf folgende Stille. Jedes Klirren ließ Chris zusammenzucken.

Es war der Tag gewesen, an dem er sich erst spät aus seinem Versteck getraut hatte. Dann, als er sich sicher gewesen war, dass sein Vater tief seinen Alkoholrausch ausschlief. Er hatte seinen Koffer gepackt und war zu Heiner gegangen. Alleine und nachts. Verdammt noch mal, er war doch erst zehn Jahre alt gewesen! Am nächsten Morgen hatte er seinem Vater angerufen, welcher vor Wut irgendwo gegen geschlagen hatte. Es war nichts zerbrochen, außer die Verbindung zwischen ihm und Chris.

Stattdessen hatte Johann durchgeatmet und gesagt: »Es wird wohl besser so sein. Heiner hat wohl immer Glück, was?«

»Willst du auch Tee?«, riss ihn die Stimme seines Vaters aus den Gedanken.

HypocritaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt