[39] XXXIX. Der Ritter in strahlender Rüstung

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Als ich die Augen aufschlug, wusste ich nicht, wo ich war. Oder wie ich hier her gekommen war. Doch dann stieg mir der vertraute Geruch meiner Bettdecke in die Nase. Durch die Rollläden fiel warmes Licht und durch die Tür drangen leise Stimmen. Verwirrung machte sich in mir breit. War es nur ein Traum gewesen? Ich erinnerte mich daran, wie ich mir selbst die Pistole an den Kopf hielt. An das unangenehme Gefühl, durchzudrehen und die Kontrolle zu verlieren. Ich hatte das Gefühl, den Schweiß immer noch an meiner Haut zu spüren, meine Muskeln fühlten sich so an, als hätte ich das intensivste Workout meines Lebens gemacht. Nein, es war kein Traum gewesen. Ich wünschte es wäre nur ein Albtraum gewesen. Leider passte es nicht in die Definition von Wünschen und Träumen, real zu sein.

Ich erinnerte mich an Else Zankes Worte, dass Bianca der Schlüssel zur Heilung aller Krankheiten war. Wie sie alles an meinem Körper steuern konnte und sie sagte, sie könne mich von Asthma befreien. Ich erinnerte mich an Tamara, wie sie Frau Zanke entgegengetreten war und an ihre Worte, dass sie alles für Familie täte. An Frau Zanke, wie sie sagte, dass Tamaras Vater sie nicht retten würde und an die Tränen. Ich erinnerte mich an den schrecklichen Moment, als ich meine Pistole auf Tamara gerichtet hatte. Und danach war alles dunkel.

Die Uhr zeigte mir, dass es neun Uhr am Sonntag war. Plötzlich durchzuckte mich ein Gefühl. Ein Gedanke. Ein Faden, nachdem ich greifen müsste, der mir bekannt vorkam. Etwas, was wie ein bitterer Geschmack auf der Zunge lag. Doch genau so schnell, wie das Gefühl mich durchdrungen hatte, verschwand es wieder. Was war es gewesen? Und warum zur Dreikäsehochs Unterwäsche waren meine letzten Stunden wie ausgelöscht?

Eine Erinnerung. Eine Erinnerung an etwas, aber was? An etwas, was nach meinem Blackout passiert war? Wie war ich hier her gekommen? Was war passiert?

Ich schlug die Bettdecke zurück und machte mich daran, in die Küche zu gehen, um Mama beim Frühstück machen zu helfen. Falls überhaupt Mama dort unten herumhantierte. Ich war immer noch verwirrt und hatte das Gefühl, von einer Zeitreise zurückgekehrt zu sein. Frühstück ... es wirkte auf mich so unrealistisch, an Frühstück zu denken, da das letzte, an das ich mich erinnerte, die Pistole in meiner Hand und Frau Zankes kalter Blick war.

Meine Beine knickten beinahe unter mir weg, dennoch setzte ich einen wackligen Schritt vor den anderen, doch nach nur wenigen Metern musste ich mich an der Wand abstützen. Mir kam es so vor, als hätte ich drei Wochen lang kein Sport gemacht und jegliche Muskeln dabei verloren.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte ich es die Treppen nach unten geschafft. Ich wischte mir mit dem Pullover den Schweiß von der Stirn und drückte die Türklinke zur Küche nach unten.

»Bianca, Liebling«, rief Mama erleichtert, als sie mich im Türrahmen entdeckte. Sofort ließ sie die Pfanne wieder auf die Herdplatte fallen und nahm mich fest in die Arme. »Mensch, du warst so lange bewusstlos, ich hatte Angst um dich«, nuschelte sie in meine Haare.

»Wie lange?« Ich schob Mama ein wenig von mir weg, um Luft zu atmen. Da entdeckte ich die anderen Besucher. Heiner und Tamara saßen am Küchentisch, beide mit einer Kaffeetasse vor ihrer Nase. Zwei weitere standen darauf, eine von meiner Mutter und eine, die augenscheinlich keinen Besitzer hatte.

»Du warst zwei Tage bewusstlos, Spätzchen.«

Ich riss die Augen auf. Zwei Tage? Heilige Paprikaschoten!

»Komm, setz dich zu uns«, sagte Heiner. Ich blickte ihn zweifelnd an. Bei seinem und Tamaras Anblick prasselten die Erinnerung an Hypocrita auf mich ein. Lange Flure, der Schacht, der Generator, Frau Zanke. Das Geräusch von einem Schuss. Herzklopfen, Panik, Schritte, Kontrollverlust.

Die Welt verschwamm vor meinen Augen und ich hielt mich an der Tischkante fest, um nicht umzukippen.

»Bianca, alles in Ordnung?«, fragte Tamara besorgt.

HypocritaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt