Natalie rannte. Nie war sie so froh darüber, regelmäßig ins Fitnessstudio gegangen zu sein. Sie spürte die Anstrengung in ihren Beinen, aber immerhin keuchte sie nicht wie Ali neben ihr. Xuan drehte sich ab und zu um, wie um sich zu vergewissern, ob die lahmarschigen Enten, wie sie Natalie und Ali bezeichnet hatte, auch wirklich noch da waren. Natalie war sich noch nicht sicher, warum sie überhaupt rannten, denn soweit sie wusste, hatten sie keine Verfolger, aber Xuan hatte sich nicht dazu heruntergelassen, es ihnen zu erklären.
»Können wir nicht kurz ne Pause machen?«, rief Ali außer Atem, aber Xuan überhörte es gekonnt. Innerlich schüttelte Natalie den Kopf über Xuans Verhalten - was sollte das? - aber Xuan war immerhin diejenige, die sie hier befreit hatte. Obwohl sie sich immer noch in den Tiefen von Hypocrita befanden. Hoffentlich steuerte Xuan auf den Ausgang zu. Zumindest konnte Natalie jetzt Aufzüge erkennen. Und endlich verlangsamte Xuan ihr Tempo. Sie drückte auf den Knopf und wartete, bis die Türen aufsprangen. In dieser Zeit konnten Natalie und Ali endlich aufholen.
Sie betraten den Fahrstuhl, der glücklicherweise leer war. Doch als Natalie sah, worauf Xuan drückte, verstand sie die Welt nicht mehr.
»Warum willst du denn nach unten fahren? Wir müssen hier weg!«
»Wir müssen hier weg, keine Frage, aber erst einmal muss ich noch etwas erledigen, wenn es nicht schon zu spät ist.«
»Was musst du so Wichtiges erledigen?«, hakte Natalie nach. Entgegen der Befürchtung, wieder keine Antwort zu bekommen, sagte Xuan: »Wir werden einen Computer umprogrammieren. Sofern man es als Computer bezeichnen kann. Denn von diesem Generator hängen Menschenleben ab.«
Natalie nickte, als hätte sie verstanden, wie von einem Computer Menschenleben abhängen können. Ali schwieg, er war offensichtlich zu konzentriert darauf, seine unregelmäßige Atmung wieder unter Kontrolle zu halten. Kurz darauf öffneten sich die Fahrstuhltüren mit einem leisen Geräusch.
Was auch immer Xuan versucht hatte, zu erreichen, Natalie war sich sicher, dass es nicht das Bild war, was sie vor sich hatten.
»Hände hoch!«, brüllte einer der Wachen. Mindestens fünf Pistolen waren auf sie gerichtet. Sie wurden aus dem Fahrstuhl geschleift, während Natalie Xuan einen fragenden Blick zuwarf. Der Resignation in ihrem Gesicht zufolge, hatte Xuan das hier befürchtet. Widerstandslos ließ Natalie sich die Hände fesseln, während Xuan versuchte, den schwarzen Wachen die Waffe aus den Händen zu schlagen.
Sie traf den einen, doch kurz darauf waren drei weitere Wachen bei ihr und hielten sie fest. Die Wachen schoben sie, nachdem sie alle drei gefesselt waren, den Gang entlang.
Na super, dachte Natalie. Von einem Gefängnis ins nächste.
***
»Ich bin beeindruckt. So einen guten Plan hattet ihr, oder? Wie schade es doch ist, dass ihr an eurer eigenen Dummheit gescheitert seid.« Frau Zanke steckte ihre Pistole zurück und lehnte sich mit überkreuzten Beinen an die Wand. »Aber umso besser für mich.«
Ein weiterer Sicherheitsmann hielt nun seine Pistole auf mich gerichtet. War sich Zanke zu schade, um zu schießen? Wollte sie nicht noch mehr Blut an ihren Händen haben? Ich stierte sie böse an, machte sonst aber nichts, denn der Typ vor mir war immer noch derjenige mit der Pistole in der Hand. Da wollte ich keine falsche Bewegung riskieren. Ich blickte zu Chris und Tamara, die jetzt beide von den Wachen festgehalten wurden, während niemand mich festhielt.
Warum bekam ich die Extra-Behandlung? Warum hatte ich das Gefühl, dass Else Zanke irgendein Spiel spielte und ich eine Schlüsselfigur war? Warum sie mich brauchte?
Ich dachte an Finns Worte, bevor wir Hypocrita betreten hatten. »Ich werde alles dafür geben, dass Bianca unbeschadet bleibt.« Hatte er das womöglich wortwörtlich gemeint? War das der Grund, weshalb die ganzen Wissenschaftler mich interessiert angeschaut hatten, war das der Grund, weshalb man mir Blut abgenommen hatte?
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Hypocrita
Tajemnica / ThrillerEine Geschichte darüber, wie aus Witz und Tod Humord wird. Darüber, wie normalerweise kein Mordfall aufgeklärt werden würde. Darüber, wie schnell man sich in IQ-Einzeller verlieben kann und darüber, wie verdammt gut man aufpassen muss, welche Schrit...