Mein Herz setzte einen Schlag aus und wir wirbelten herum.
»Nicht anfassen, ihr Anfänger«, warnte uns das schwarzhaarige Mädchen im Türraum, welches uns spöttisch betrachtete.
»Xuan?«, fragte ich verblüfft. »Was machst du hier?«
»Das gleiche Ziel verfolgen wie ihr«, sagte sie herablassend und trat über die Schwelle.
»Wie lange schaust du uns schon zu? Wie lange verfolgst du uns schon?«, wollte ich wissen. Sie zuckte bloß mit den Schultern.
»Ich verfolge euch tatsächlich nicht, ob ihr es glauben wollt, oder nicht. Obwohl es vielleicht sogar von Vorteil gewesen wäre, ihr seid offensichtlich schlauer, als ihr ausseht.«
Ich war noch dabei, mich zu entscheiden, ob ich diesen Kommentar als Kompliment oder als Beleidigung auffassen wollte, als Chris meine Gedanken unterbrach.
»Xuan, was ist dein Plan?« Er war sichtlich verwirrt. »Wolltest du heute nicht mit Tamara zusammen lernen?«
»Jede hat so ihre Geheimnisse«, entgegnete sie und schob sich an mir vorbei, um einen besseren Blick auf die Videos zu bekommen. »Ich bin überrascht, dass ihr den Code herausgefunden habt.«
»Xuan, was machst du hier?«, bohrte Chris mit Nachdruck nach. Sie drehte sich um, betrachtete uns stumm einen kurzen Augenblick, ehe sie antwortete: »Nachforschen.«
»Nachforschen?«, wiederholte ich skeptisch. Doch dann fiel mir etwas ein. Nachforschen. Eine Szene aus meiner Erinnerung zuckte vor meiner inneren Leinwand auf. Wie sie das Papier auf meinem Schreibtisch offensichtlich gelesen hatte. Den Brief, das Geständnis. Wie sie nicht noch einmal nachgefragt hatte, was genau es bedeutete.
»Warte mal!«, rief ich. »Hast du etwa auch nachgeforscht, als du mir die Hausaufgaben vorbeigebracht hast?«
Sie antwortete nicht, ihren Blick wieder starr auf die Videos gerichtet.
»Was hat das zu bedeuten?«, murmelte sie.
»Hallo? Xuan, Teuerste, du kannst hier nicht reinspazieren und so tun, als wäre das, was du hier abziehst, nicht äußerst komisch.«
»Nein?«, fragte Xuan und zog eine Augenbraue hoch. »Die Tür stand doch offen.«
»Xuan, sag uns doch einfach, weshalb du hier bist«, seufzte Chris genervt. Xuan zuckte mit den Schultern und zum ersten Mal war ich dankbar, dass Chris und sie befreundet waren.
»Aus dem gleichen Grund wie ihr, denke ich. Wegen dem Mord an Biancas Vater.«
»Wie?«, kam es über meine Lippen. »Warum das denn? Was hast du denn damit am Hut?«
»Kann ich nicht sagen.«
»Kannst du nicht, oder willst du nicht?«, hakte ich skeptisch nach.
Xuan schüttelte den Kopf. »Es wäre viel zu kompliziert, um es zu erklären.«
»Ach ja? Ist es das?«, fragte ich mit einem provozierenden Unterton. »Try me. Immerhin ist es mein Vater, um den es geht und-«
Xuan hielt mir plötzlich den Mund zu. Ich wollte gerade empört etwas von mir geben, als ich es auch hörte. Schritte auf dem Kiesweg vor der Garage. Ich verstand und meine Augen wurden groß. Xuan senkte die Hand und schlich zur Tür. Drückte sich flach an die Wand, während wir hinter den Gerätschaften im Raum versuchten, Schutz zu finden. Chris zog mich mit sich unter den Tisch am Rand des Raumes. Mein Herz pochte so verrückt, dass ich Angst hatte, es würde uns verraten. Chris' plötzliche Nähe machte es nicht besser.
Xuan spähte vorsichtig raus in die Garage. Ruckartig zog sie den Kopf zurück und hockte sich hinter einen kleinen Beistelltisch. Die Schritte kamen näher. Durch den Kies vor der Garage knirschten sie besonders laut. Plötzlich stoppten sie. Genau vor der Garage. Ich erschauderte, als ich daran dachte, dass das Garagentor noch offen stand und wir wem auch immer schutzlos ausgeliefert waren. Vielleicht würde man uns nicht bemerken. Obwohl die Chancen schlecht standen.
![](https://img.wattpad.com/cover/338858621-288-k852478.jpg)
DU LIEST GERADE
Hypocrita
Misterio / SuspensoEine Geschichte darüber, wie aus Witz und Tod Humord wird. Darüber, wie normalerweise kein Mordfall aufgeklärt werden würde. Darüber, wie schnell man sich in IQ-Einzeller verlieben kann und darüber, wie verdammt gut man aufpassen muss, welche Schrit...