Natalie knabberte viel zu oft an ihren Fingernägeln. Aber sie konnte nicht anders. Es war schon viel zu lange her, dass Finn sie und Ali alleine gelassen hatte. Er hatte gesagt, dass er Xuan zu Dr. B bringen musste. Natalie hatte keine Ahnung, wer das war. Und was hatte Xuan vor? Oder diese Dr. B?
»Genügend Fingernagel gegessen, Weasley?«, fragte Ali aus der Ecke, in der er kauerte. Leider hatte Finn daran gedacht, ihnen beiden die Handys abzunehmen, weshalb sie hier ohne jegliches Zeitgefühl saßen. Natalie nahm ihre Finger runter und ballte sie kurz zu Fäusten. Dann lief sie einige Schritte auf und ab.
»Ich hasse es, dass wir nichts tun können. Haben die anderen die Nachrichten überhaupt erreicht?«
Ali zuckte mit den Schultern, Natalie seufzte und ließ sich anschließend neben ihn fallen.
»Was nützt mir überhaupt mein ganzes Wissen, was ich gerade durch meine Fingernägel an Stoffen aufgenommen habe, wenn man nie in der Schule beigebracht bekommt, wie man aus einem abgeschlossenen, fensterlosen Raum flieht?«
»Bro, weiß ich auch nicht. Aber was ist denn da drin?«
»Wo drin? In diesem Raum?«
»Ich meinte, in deinen Fingernägeln.«
»Ach so.« Nachdenklich betrachtete Natalie diese. »Das ist Keratin. Und das wiederum besteht aus Kohlenstoff, Sauerstoff und weitere Elementen und darunter auch Calcium, Magnesium, und Eisen.«
»Jo, ist Magnesium nicht das, was man sich an die Hände reibt, wenn man Klimmzüge macht?«, fragte Ali.
»War klar, dass das das einzige Detail sein wird, was du dir merkst.« Natalie verdrehte die Augen.
»Junge, ich schwöre, der andere Scheiß ist doch unwichtig«
Natalie verschränkte die Arme. Ihr kleines Chemikerherz blutete.
»Stimmt nicht. Eisen ist im Blut, Calcium hält Zähne und Knochen stabil, und Kohlenstoff und Sauerstoff sind zwei wichtige Grundstoffe der organischen Verbindungen. Außerdem ist es nicht Magnesium, was du dir an die Hände packst, sondern Magnesia und das wiederum ist ein Gemisch aus Magnesiumcarbonat und Magnesiumhydroxid, welches den Handschweiß absorbiert.«
»So schlau, Weasley«, sagte Ali anerkennend. Natalie spürte, wie ihre Wangen trotz des komischen Kompliments erröteten, weshalb sie sich wegdrehte.
»Einer von uns muss ja den IQ des anderen ausgleichen, sodass wir bei dem Durchschnitt von hundert landen.«
Ob Ali wirklich so dumm war, wie er immer wirkte? Denn Natalie wollte keine Freunde haben, mit denen sie nicht fachsimpeln konnte, mit denen sie nicht Mathematiker- und Chemikerwitze reißen konnte.
Doch Ali lachte - zu Natalies Erstaunen - auf. »Das ist gerade lowkey gemein von dir. So wenig ist dann doch nicht von meinem Hirn übrig.«
Natalie antwortete nicht, sondern dachte an andere Worte, die Ali einmal gesagt hatte. Sie wusste nicht, warum die Erinnerung daran gerade hochschwappten.
»Wir sollten doch immer neue Erfahrungen sammeln ...«
»Halsbrecherische gehören aber nicht dazu«, hatte Natalie geantwortet.
»Und wenn es Hals über Kopf verlieben ist?«
Ein Klicken von der Tür unterbrach ihre Gedankengänge, die in eine Richtung gingen, die ihr gar nicht gefiel. Die Tür schwang auf und gegensätzlich zu Natalies Vermutung, Finn würde ihnen wieder einen Besuch abstatten, stand Xuan in der Tür.
Vor Erleichterung machte Natalies Herz einen Hüpfer nach oben. »Xuan!«
»Wir müssen uns beeilen«, antwortete sie und winkte die beiden aus dem Raum.
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Hypocrita
Mistério / SuspenseEine Geschichte darüber, wie aus Witz und Tod Humord wird. Darüber, wie normalerweise kein Mordfall aufgeklärt werden würde. Darüber, wie schnell man sich in IQ-Einzeller verlieben kann und darüber, wie verdammt gut man aufpassen muss, welche Schrit...