[16] XVI. Bodenständiger Plan

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Ich starrte perplex auf die Trümmer im Raum hinter mir. Mein Herz hatte sich immer noch nicht beruhigt. Der Balken, die einstürzende Decke, der Lärm und die Steinsplitter.

Ich wandte meinen Blick nach oben zu der Person, die mich gerade gerettet hatte. Würde der Schock mir nicht noch in den Gliedern sitzen, würde ich es vielleicht ein bisschen unangenehm finden, dass Chris auf mir lag. Oder erregend. Ich wusste es nicht. Ich schluckte und hauchte: »Danke.«

»Wenn eine Dame in Not ist, bin ich immer zur Stellung«, erwiderte Chris, stand auf und reichte mir seine Hand. Ich ergriff sie. Mein Atmen beruhigte sich langsam, als wir endlich die Villa verließen. Die Sonne stand tief und tauchte das Gelände in ein rotes Licht. Als wir die Stufen erreichten, ließ ich Chris' Hand los und setzte mich. Was war passiert? Der Unbekannte hinter der anonymen Nummer war immer noch nicht aufgetaucht. Und irgendwie beschlich mich das Gefühl, dass er das auch nicht mehr tun würde.

»Was machst du eigentlich hier?«, fragte ich Chris, als er sich neben mich setzte.

»Dein Leben retten?«, gab Chris mit einem beinahe überheblichen Lächeln zurück.

»Ja klar, und es wird sicher Zufall gewesen sein, dass du ausgerechnet hier deinen abendlichen Spaziergang gemacht hast.«

»Vielleicht solltest du, wenn du wirklich geheime Nachrichten schickst, aufpassen, dass nicht jeder mitlesen kann.«

»Und vielleicht solltest du nicht einfach bei fremden Leuten die Nachrichten mitlesen«, erwiderte ich ein bisschen giftig.

»Ich hatte nur so eine Vorahnung. Eigentlich wollte ich dich besuchen kommen, aber du bist gerade mit Blick auf dein Handy zur Bushaltestelle gelaufen. Deswegen bin ich dir gefolgt, um zu schauen, ob alles klar geht. Ich dachte mir, es wäre besser, wenn ich als Backup dabei bin, aber wir trotzdem Informationen bekommen können.«

Ich nickte, denn ich verstand seinen Punkt. Es war vielleicht wirklich schlauer gewesen, dass er mir gefolgt war. »Ich hätte deine Hilfe sowieso nicht gebraucht. Wahrscheinlich hast du die fremde Person durch deine Anwesenheit verschreckt.«

Chris schnaubte. »Klar. Gar nicht der Lärm, den du losgetreten hast, weil du gegen den Stützpfeiler gelaufen bist. Aber mal ehrlich: Ohne mich wärst du jetzt platt wie ein Pfannkuchen. Also hör auf mich platt zu machen, nur weil ich dich vom platt werden gerettet habe«, sagte er. Ich lachte leise.

»Ich dachte, du magst süß. Pfannkuchen sind süß.«

»Aber nicht, wenn sie Blut als Beilage haben.«

»Interessant. Aber gut, merk ich mir - kein Blut auf deine Pfannkuchen. Lieber ein paar Gehirnzellen für dich? Also nötig hättest du sie«, stichelte ich und verpasste ihm einen sanften Klaps auf die Schulter.

»Ich verzichte, danke.« Dann grinste Chris und meinte: »Ich werde wahrscheinlich nie wieder Pfannkuchen essen können.«

»Ich auch nicht«, stimmte ich zu und lachte.

»Welchen anderen Snack als dich bräuchte ich denn überhaupt?«, fragte Chris nun mit wackelnden Augenbrauen und ich musste noch mehr lachen.

»Ich glaube, ich gehe. Mir wird das hier zu kannibalistisch«, stoppte ich die äußerst geschmacklose Konversation. Chris antwortete nicht, sondern schaute mich nur an. Als würde er versuchen, zu erraten, was ich gerade dachte, nur dass er diesmal nicht danach fragte. Für einen kurzen Moment blickte ich einfach nur in seine braunen Augen und nahm zum ersten Mal den schmalen grünen Rand wahr, der sich wie ein Jadering um seine Iris zog.

Ich wäre vor wenigen Minuten fast von einem Stein zerquetscht worden und jetzt machten wir Witze über Kannibalismus.

Wie absurd das alles doch war. Auf einmal musste ich so sehr lachen, dass mein Bauch anfing zu schmerzen. Chris steckte ich an, der anklagend mit dem Finger auf mich zeigte, und mein Lachen mit »sterbendes Ferkel« beleidigte. Irgendwann tat mein Bauch so sehr weh, dass ich mir die Tränen aus den Augenwinkeln wischen und tief durchatmen musste.

HypocritaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt