[28] XXVIII. Wenn Türen sich öffnen

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Unglaublich. Wunderschön, unfassbar. Das waren die Worte, die Else Zanke dachte, als sie über die filigran gearbeiteten Flügel des Schmetterlings strich. Was diese Flügel konnten, hatte sie noch nicht austesten können, aber sie war sich sicher, dass sich bald eine Gelegenheit bieten würde. Als sie Schritte von hinten hörte, packte sie ihn schnell wieder weg. Noch brauchte niemand von ihrer Errungenschaft wissen.

»Unsere Praktikantin will reden.« Anke Bor, für Mitarbeitende von Hypocrita Dr. B, hatte den Raum hinter Else Zanke betreten. Langsam drehte sie sich um.

»So? Will sie betteln? Dass wir sie freilassen sollen?« Elses spöttischer Unterton war kaum zu überhören.

»Nein. Sie hat ein Angebot für uns.«

»Ach und welches Angebot könnte das sein?«

»Informationen. Sie hat wertvolle Informationen für uns.«

Das bezweifelte Else Zanke. Wie sollte das kleine Mädchen Informationen haben, die auch noch wertvoll seien? Wertvoll war der Schmetterling in der Box hinter ihr. Die Worte eines Teenagers wohl kaum.

»Und sie will im Gegenzug frei gelassen werden?«

»Das fordert sie wahrscheinlich.« Dr. B schüttelte den Kopf. »Sie denkt, dass wir sie für immer hier festhalten wollen würden.«

Else Zanke nickte. Eigentlich hatten sie geplant, das Mädchen durch eine spezielle Kur alles vergessen zu lassen und sie anschließend wieder in das normale Leben zu schicken. Aber wenn die Praktikantin Informationen für ihre Freiheit verschwenden wollte, die sie nicht preisgeben müsste, damit sie wieder aus Hypocrita herauskommen könnte, warum dann nicht?

»Lassen wir sie reden«, stimmte Else Zanke zu.

***

Ich konnte nur hoffen, dass ich mir den Weg richtig gemerkt hatte. Einmal nur hatte ich Chris mit zu Heiner gebracht und es war schon länger her. Auf Google Maps konnte ich nicht vertrauen, denn mein Handy war immer noch nicht wieder bei seiner Mammi.

Die Luft war wieder erstaunlich kühl geworden und ich zog den Mantel enger um mich. Ich lief auf dem Kopfsteinpflaster der schmalen Straße, auch wenn ich damit rein theoretisch gegen Regeln verstieß. Aber hier fuhr selten ein Auto entlang. Links und rechts wurden die Einfamilienhäuser immer größer und reicher. Dafür musste man allerdings nur ein paar Straßen weiter gehen, um wieder bei hässlichen Plattenbauten anzugelangen.

Vor einem vergleichsweise kleinen Haus blieb ich stehen. Ich hatte mich schon letztes Mal gefragt, warum Heiner und Chris bei uns einzogen und nicht umgekehrt. Heiners Haus war größer und moderner. Aber mir war es nur recht, ich wollte nicht aus unserem Haus ausziehen. All die Erinnerungen, die wir darin gesammelt hatten, ob gut oder schlecht, würde ich nicht einfach so aufgeben wollen.

Doch jetzt schlich sich zweiter Gedanke ein. Was, wenn Heiner nicht wollte, dass wir zu ihm zogen, weil er etwas zu verbergen hatte?

Ich kletterte über den Zaun, darauf bedacht, mir meine Kleidung nicht kaputt zu machen, und ging den gepflegten Weg nach oben. Mit jedem Schritt wurde mir klarer, wie dumm ich eigentlich war. Ich hatte keinen Schlüssel, um in das Haus zu gelangen. Ich hatte auch keine Kenntnisse, wie man Schlösser knacken konnte. Der Darth Vader Würgegriff hatte letztes Mal offensichtlich nicht geklappt. Für einen kurzen Moment dachte ich daran, einfach umzukehren, überlegte es mir dann aber anders. Mir war nämlich etwas aufgefallen. Die Tür stand offen. Warum stand die Tür offen? War womöglich noch jemand hier?

Heiner und Mama waren Essen gegangen, da war ich mir ganz sicher. Aber wer würde sonst etwas hier wollen?

Sanft stieß ich die schwere Tür ein wenig weiter auf.

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