Kapitel 44

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Am Ende der Woche hatten sich alle gemeinsam Versammelt. Die Nachricht ist langsam durchgesackt und ließ nur Erschütterung zurück. Wortlosversammelten sich alle am Friedhof. Phil hatte die sehr schwere Aufgabe bekommen die Rede zu halten, überhaupt mitzuteilen was war. In der Email, die die schlimme Nachricht verbreitete, stand nur etwas darüber, dass sie nicht mehr hier sei, nichts über den Grund.

"Wenn ich an Jacky denke, denke ich an einen fröhlichen Menschen, jemand der immer für einen da ist. Immer für alle da ist. Es gab keine Schicht mit ihr, auf die ich nicht voller Vorfreude geblickt habe, schon auf der gleichen Wache zu sein, hat uns allen immer gute Laune gebracht. Eine 24 Stundenschicht war mit ihr gleich nicht mehr so schlimm. Doch was ihr denke ich auch wisst ist, dass Jacky ein ziemlich privater Mensch war. Gefühle und Gedanken waren nicht ihr Lieblingsthema. Deshalb werde ich nicht weit ins Detail gehen, sie hätte das nicht gewollt. Ihre Hintergrund ist kein sehr schöner. Sie hat uns alle immer als ihre Familie bezeichnet. Ihre echte ist leider nicht mehr da. Immerhin halte ich die Rede, als Kollege und hoffentlich guter Freund, doch ist kein Verwandter hier, keine Eltern oder Geschwister. Wie ihr gleich feststellen werdet ist ihre gesamte Familie bereits von uns Gegangen. Jacky ist ihnen gefolgt, um dort endlich Frieden zu finden. Einen Frieden den sie sich verdient hat endlich zu finden, einen Frieden den sie über ein Jahrzehnt lang gesucht hat." hielt Phil eine kurze Rede mit zitternder Stimme, bevor er sic wieder hinsetzte. 

Etwas später wurde der Sarg ins Familiengrab abgelassen. Der Großteil erfuhr so zum ersten mal so wirklich von den Verlusten die Jacky hatte. Rechts und links neben dem Grab waren jeweils die Gräber der restlichen Familie mütterlicher und väterlicherseits. Im vorhinein wurde überlegt, ob man sie bei der Familie oder ihrem Verlobten beisetzten sollte. Und entschied sich doch für die Familie und einem zweiten kleinen Grabstein beim Freund. 

Danach gingen sie alle gemeinsam Essen, wie es üblich war, doch wirklich essen konnte keiner. Der Verlust zwei noch so junger Kollegen hing allen noch nach.

"War das dein Ziel? Sollte das passieren?" fragte Phil sie eindringlich. Er saß im Krankenhaus an Jackys Bett. Er hatte kurz vor der Beerdigung rausgefunden was ihre Pläne waren und die Medikamente Ausgetauscht. Sie wurde zwar bewusstlos, was aber durch den Heulkrampf kam. Seit sie wach war sagte sie nicht ein Wort. So begann Phil die Geschichte weiter zu erzählen. Was passiert wäre, hätte er es nicht verhindert. Weiterhin starrte sie nur an die Decke.
"Es wird jetzt entschieden wie es weiter geht, wenn du also noch etwas mitreden möchtest, dann solltest du deinen Mund mal öffnen." riet ihr Phil. Sie blieb ruhig und starrte weiterhin in der Gegend rum.
"Oli wird ein Gutachten erstellen und dann wird weiterentschieden. Es ist deine letzte Chance. An deiner Stelle würde ich freiwillig gehen."
Doch das wollte sie auf keinen Fall, sie musste irgendwie weg. Während Oli und Phil sich kurz besprachen, wollte sie ihre Chance nutzen. Doch natürlich wurde daraus nicht. Zu schnell stand Oli neben ihr und sie hörte die Tür ins Schloss fallen. 

"Redest du mit mir?" begann Oli.
Sie bewegte sich kein bisschen. 
"Auch ok. Also ich habe fünf Möglichkeiten dich einzuschätzen:
- Patientin 19 weiblich, Suizidversuch, bereits mehrere Versuche und SSV bekannt. Jegliche Interaktionen werden ignoriert und es ist keine Einschätzung möglich, daher besteht weiterhin akute Gefahr für sie selbst.
- Patientin 19 weiblich, Suizidversuch, bereits mehrere Versuche und SSV bekannt. Gesprächstherapie wird angenommen, weitere Einschätzung möglich
- Jacky, Suizidversuch, bereits mehrere Versuche und SSV bekannt, benimmt sich nicht typisch, keine Interaktion möglich, daher muss von Eigengefahr ausgegangen werde
- Jacky, Suizidversuch, bereits mehrere Versuche und SSV bekannt, Gesprächstherapie wird angenommen, weitere Einschätzung möglich, Erfahrung deutet auf keine zu große Gefahr
- Patientin bekannt, daher kein objektive Einschätzung möglich.
All das kann ich entscheiden und du kannst jetzt Einfluss nehmen, dafür müsstest du dich aber mal bewegen. Du liegst hier schon seit mehreren Tagen so rum. Und Essen tust du auch nicht. Ich will nur wissen was du gerade denkst."
Sie blieb immer noch still.
"So sehr es mir leid tut, aber ich werde dich in eine Psychiatrie einweisen müssen. Wir wollen doch alle nur das es dir besser geht." erklärte Oli ihr.
"Was soll denn noch besser werden? Ich habe alles verloren. Und sag mir jetzt nicht ich habe noch euch. Nicht nach Dustin und Finn." murmelte sie, starrte aber immer noch an die Decke.
"Das Ziel ist es doch für dich etwas zu finden, was deinem Leben wieder einen Sinn gibt."
"Wer sagt das das hält? Länger als ein Jahr, denn das ist mir noch nie passiert. In den letzten 15 Jahren gab es nicht ein Jahr am Stück, in dem ich nichts verloren habe. Ich war dieses Jahr auf mehr Beerdigungen als auf Feiern. Auch wenn die Therapie was bringen würde, was es die letzten zwei Male nicht getan hat, ich habe außerdem eine richterliche Anordnung, die mich von erzwungenen Therapiemaßnahmen befreit, dann sind wir spätestens in einem halben Jahr wieder hier. Was bringt das? Was bringt das irgendwem? Es gibt euch ein halbes Jahr, um euch vorzubereiten für etwas was sowieso passiert. Wir können das einfach überspringen." erklärte Jacky.
"Du bist doch erst so jung, du hast noch so viel vor dir. Das willst du aufgeben?"
"Du verstehst es nicht. Keiner versteht was in mir abgeht, aber ich schaff das nicht, auch wenn ihr mich zwingt, es wird nicht besser werden."
"Da bin ich mir nicht so sicher. Du hast schon so oft einen Weg gefunden, auch wenn es vielleicht nicht immer optimal war. Ich denke du solltest noch etwas hier bleiben, bis du bereit bist, aber inklusive Gesprächstherapie mit mir, beginnend ab heute, ehr ab jetzt.
Warum? Warum möchtest du nicht mehr leben?" begann Oli.
"Möchtest du es chronologisch oder alphabetisch? Obwohl dir das Alex, Phil, Birgitt oder Charlotte genauso gut erzählen könnten."
"Wie wäre es wir konzentrieren uns auf den Hauptgrund?"
"Den gibt es nicht, es ist ehr die Frage was das Fass schlussendlich zum Überlaufen gebracht hat, aber das ist schon seit mindestens 11 Jahre am überquellen, also ehr was die Wanne darunter auch noch überfüllt hat und das ist so viel, dass kann man nicht aufarbeiten. Alleine die Sachen die ich aufzählen kann sind Bücher voll. Das würde Jahre dauern."
"Es ist erstmal der erste Schritt die etwas Wasser aus dem System zu nehmen bis nichts mehr überläuft, dann kann entspannt alles aufgesaugt werden."
"Mmmmm, hat noch nie geklappt, das Wasser was raus geht war noch nie größer als das was rein geht. So schnell kann keiner verarbeiten."
"Deswegen kommst du in einen geschützten Raum, wo nichts neues dazu kommt. Schmeiß dein Leben bitte nicht weg."
"Bei meinem Glück klappt das nicht, außerdem rede ich nicht so gerne."
"Gerade redest du?"
"Habe ich eine Wahl? Je mehr ich rede, desto besser bewertest du meinen Zustand. Umso schneller habe ich meine Ruhe."
"Um was zu tun?"
"Darauf falle ich nicht rein, um glücklich zu werden. Mein einziges Lebensziel. Einmal vollkommen Glücklich zu sein."
"Das warst du noch nie?"
"Nein, leider nein."
"Auch nicht als Kind?"
"Nichtmals dann."

Jeder trägt seine Last - nur nicht jeder zeigt sieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt