Die selbstbewusste Macherin

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Wer Agatha Christie gelesen hat, kennt den Orient Express. Eine geschichtsträchtige Zugverbindung zwischen London, via Paris bis nach Konstantinopel (heute Istanbul). Früher gab es ausschliesslich Schlaf- und Speisewagen der Luxusklasse.

Bahnfahrten haben etwas Beruhigendes an sich. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber das sanfte Schaukeln und regelmäßig erklingende Signalhorn der Lokomotive wirken wie eine sanfte Drehorgelmusik neben der Kinderkrippe. Ich fühle mich geborgen, kann mich frei bewegen, komme ohne Stress voran und habe die Verantwortung meiner Reisesicherheit in die Hände von Profis gelegt.

Mein Abteil würde Platz für zwei Personen bieten, doch das obere Bett habe ich zurückklappen lassen. Vor dem Fenster steht ein kleiner Wandtisch und daneben ein gepolsterter Armsessel; eine festgeschraubte Tischleuchte verbreitet ihr warmes Licht. Es riecht nach Holz, Lack und Stoff - so ähnlich als würde man die Nase durch ein geöffnetes Fenster in einen Oldtimer stecken - so riecht Geschichte, so riecht Erfahrung - selbst wenn das Holz und die Polsterung leider nicht erzählen können, was ihnen in den letzten hundert Jahren widerfahren ist.

Die Holzwände sind dunkelbraun, der gewölbte, halbrunde Dachbogen ehemals weißgestrichen und nun von den tausenden Besuchern leicht vergilbt. Draußen, vor dem Fenster, flitzen Schilder von kleinen Bahnhöfen vorbei. Wir befinden uns irgendwo zwischen Wien und Budapest - mitten im Nirgendwo. Selten kann man die Relativität der Zeit besser erleben, als wenn man in einem fahrenden Zug unterwegs ist.

Leise schließe ich meine Abteiltüre und schlendere in Richtung Speisewagen. Dort will ich mich mit EvelynHail treffen, die ich sofort erkenne. Sie sieht tatsächlich jünger aus, als sie mir angegeben hat, doch sie lächelt mir freundlich entgegen - ein warmer Willkommengruß. "Hallo Christine - da bist du ja. Hast du ein schönes Abteil?"

"Oh ja. Selten reise ich so privat und komfortabel, danke. Hallo Evelyn - das war eine geniale Idee von dir, sich in einem Zug zu treffen."

Sie lächelt schelmisch. "Wo bist du eingestiegen?"

"In Wien - und du?" Ich setze mich.

"Bereits in Paris. Da ich in Spanien wohne, war das die naheliegendste Station."

"Dann bist du schon lange unterwegs."

"Ja und ich liebe es. Ich habe Zeit zu lesen, an meinen Manuskripten zu arbeiten und die Menschen zu beobachten."

Wir sitzen an unserem Tisch im Speisewagen, trinken einen herrlich duftenden Tee, der mich bereits an die Türkei denken lässt und lassen die Seele schweben, inmitten des würzigen Kaffeegeruchs, der vom Tresen zu uns herüberzieht. Draußen können wir einen trägen Sonnenuntergang beobachten, der die flache Landschaft der Tiefebene in warmes, gelbes Licht taucht. Aus verborgenen Lautsprechern erklingt sanft das Klavierkonzert Nr. 2 von Rachmaninow, begleitet vom Gemurmel der anderen Fahrgäste - eine angenehme Kakofonie aus vielen Sprachen. Als sich ein verführerischer Duft von frisch gebackenem in unsere Nasenhöhlen schleicht, kann ich nicht widerstehen. Wir bestellen das mit Schokolade gefüllte Gebäck, das noch warm ist.

"Mmh - herrlich. Das ist die richtige Umgebung für ein Gespräch. Du sagst von dir, du seist eine 'Jack of all Trades' - was muss ich darunter verstehen?"

"Ich bin eine Dame mit vielen Gesichtern."

"Und wenn ich es gerne etwas genauer hätte?" Ich mustere sie lächelnd aber herausfordernd.

"Zuallererst bin ich eine begeisterte Leserin und Gamerin.

Ich bin aber auch eine Faustkämpferin, ausgebildet im Fechten mit dem Katana und im Umgang mit dem Dolch, eine Lehrerin für Menschen von 1 bis 101, eine Philosophin, Liebhaberin der Sterne und Schmetterlinge, Freundin von Kätzchen und Welpen, eine Bewunderin von Nikola Tesla, ein Straßenkind im Herzen, eine angehende Schriftstellerin; die Schöne und das Biest in Personalunion, eine magische Realistin, eine Liebhaberin von Bacon Cheese Fries und weißer Schokolade und eine Illustratorin.

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