Silent Thoughts
Kapitel 3
England
6. Juni 2023
Lando
Es war bereits nachmittags und er war immer noch nicht aufgestanden.
Er lag einfach auf dem Bett, hatte alles abgedunkelt, wollte von dem trügerischen Sonnenlicht da draußen nichts sehen, weil es nicht zu seiner melancholischen Grundstimmung passen wollte. Er hatte seit Stunden nichts gegessen oder getrunken. Er schaffte es einfach nicht, sich aufzurappeln und in die Küche zu gehen. Nicht einmal für einen kleinen Snack zwischendurch, obwohl ihm langsam übel wurde.
Seine Gedanken drehten sich im Kreis, seit er die Augen geöffnet hatte. Seitdem starrte er bloß an die Decke und wusste nicht mehr, wie man einen vernünftigen Alltag führte. Er müsste mal aufräumen, die Wäsche machen, sich um andere Dinge kümmern, aber das war alles so unwichtig für ihn geworden. Das wurde immer schlimmer. Seit zweieinhalb Jahren sank er immer tiefer und er konnte es einfach niemandem sagen.
Zum einen würde ihm niemand glauben und zum anderen gab es keine Zweifel daran, dass irgendwem etwas passieren würde, wenn er zu reden begann. Klar, er sollte es womöglich riskieren, aber das ging nicht, wenn er sich nicht sicher sein konnte, dass niemandem etwas passierte. Mit Daniel hatte das alles viel besser funktioniert, aber mit Oscar wurde das komplizierter.
Dabei war Daniel echt toll gewesen und es hatte so viel Spaß mit ihm gemacht.
Bis zum Schluss hatte er versucht, das Beste aus der Situation zu machen, war ihm gegenüber nie ausfallend oder fies geworden, egal wie hart er ihn angegangen war. Er schämte sich entsetzlich dafür, wie er Daniel behandelt hatte. Er wusste, dass seine Spitzen weit über einen gesunden Konkurrenzkampf hinausgegangen waren. Aber was hätte er tun sollen? Er musste verhindern, dass Daniel ihn schlug, dass er besser war.
Nicht, weil er einfach besser sein und hier Erfolg haben wollte. Wäre es nur darum gegangen, dann hätte er niemals so um sich gebissen und versucht, Daniel gezielt mental anzugreifen, um ihn schwächer zu machen. Sowas sollte man im Sport nicht nötig haben. Wenn man gut war, dann musste man das ohne solche Angriffe schaffen. So hatte er es immer gehalten. Bis jetzt. Und Daniel hatte vermutet, dass etwas hinter diesem Verhalten steckte.
Es war schwierig gewesen, dass Daniel so einen einfühlsamen Charakter besaß. Er hatte nicht riskieren wollen, dass er dahinterkam. Am Ende war Daniel davon ausgegangen, dass er offensichtlich etwas zu sehr an Carlos hing und deswegen niemand anderen an seiner Seite haben wollte. Das war zumindest nicht völlig an der Realität vorbei. Carlos bedeutete ihm wirklich mehr, aber der war mit seiner scheiß Isa ja so glücklich gewesen.
Nein, Isabel hatte ihm nie was getan.
Im Gegenteil. Sie war immer sehr nett und freundlich zu ihm gewesen. Eigentlich genauso, wie Daniel. Beides waren empathische Menschen, die sich versuchten, in ihn hineinzufühlen. Tatsächlich hatte Isabel damals bemerkt, dass er auf Carlos stand und ihn sogar selbst darauf angesprochen. Das war ihm verdammt peinlich gewesen und er war davon ausgegangen, dass sie ihn dafür gewaltig anzicken würde.
Hatte sie aber nicht. Sogar helfen wollte sie ihm. Helfen... Wieso wollten ihm immer alle helfen? Er hatte von seinem Vater früh beigebracht bekommen, dass man auf sich allein gestellt war. Wahrscheinlich wirkte er auf alle immer noch, wie ein hilfloses unbeholfenes Kind. Sogar auf Oscar, obwohl der jünger als er selbst war. Das wurmte ihn zusätzlich, obwohl seine Probleme sehr viel größer als das waren.
Seit Carlos das Team verlassen hatte. Seit er in diese Sache geraten war...
Er hätte schon gerne mit Carlos gesprochen, ihm anvertraut, was passiert war, aber in dessen Welt gab es ja nur noch Ferrari. Er hatte ja am Anfang noch versucht, etwas zu sagen, aber Carlos war so vom neuen Team vereinnahmt gewesen, dass er ihm die ersten Monate gar nicht richtig hatte zuhören können. Es musste für Carlos ja auch ein tolles Gefühl sein, endlich ein Team zu haben, mit dem er aufs Podium und um Siege fahren konnte.
Man durfte eben auch nicht vergessen, dass Carlos von Red Bull schon auf dem Abstellgleis geparkt worden war.
Aber bei Carlos war eben alles so toll gewesen, während es im eigenen Team für ihn erst einmal abwärts gegangen war. Es tat weh, obwohl er wusste, dass aus Carlos und ihm nie etwas werden würde. Doch als er McLaren Richtung Ferrari verlassen hatte, fühlte es sich schon ein wenig an, als würden da Träume platzen. Das war vordergründig sein eigenes Problem und das wusste er auch.
Vielleicht war er deswegen so bescheuert gewesen und hatte versucht, sich mit Luisinha über Carlos hinwegzutrösten. Was war da eigentlich in ihn gefahren? Er wusste seit er vierzehn war, dass Mädchen ihn null interessierten. Doch, die Erfahrungen, die er seit dieser Zeit machen musste und die große Abneigung, die sein Vater dagegen hatte, schienen ihn dazu bewogen zu haben, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Er hatte darauf spekuliert, vielleicht bi zu sein. Ganz kalt gelassen hatte Luisinha ihn ja nicht. Peinlich und blöd war es mit ihr dennoch gewesen und er hatte einsehen müssen, dass er so schwul, wie Ferrari rot war.
Außerdem war es zu der Zeit noch so super zwischen Carlos und seiner Isa gelaufen. Er wusste, dass es da bereits Hochzeitspläne gegeben hatte. Eben alles, was zu einer langen und glücklichen Beziehung dazu gehörte. Und plötzlich war es aus gewesen, zwischen den Beiden. Anfang des Jahres, für ihn doch irgendwie aus heiterem Himmel. Er hätte nämlich mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass Carlos und Isa sich je trennen würden.
Und schon hasste er diese Frau wieder, weil es Carlos offensichtlich mies ihretwegen ging.
Diese dumme Kuh! Sah die überhaupt nicht, was die an einem Mann wie Carlos hatte? Carlos war toll! Der ideale Mann und die konnte das einfach nicht sehen. Natürlich war ihm klar, dass seine Gedanken diesbezüglich viel bösartiger waren, als angemessen. Er sollte nicht so über sie denken, nur aussprechen durfte man sowas eben nicht, da lebte er das lieber nur in seinem Kopf aus.
Während Carlos nun litt und bei Ferrari an Boden verlor, hatte er selbst die erste Saison mit einem Rookie. Da Daniel so dermaßen aus der Form geraten war, hatte es für ihn keinen neuen Vertrag gegeben und er fühlte sich ein bisschen schuldig. Hätte er weniger gestichelt und mehr Bereitschaft für Teamwork gezeigt, dann wäre es soweit womöglich gar nicht gekommen. Aber er musste einfach besser sein. Er hatte Daniel leider vernichtend schlagen müssen, sonst hätte er in den beiden Jahren mit ihm noch mehr Demütigungen ertragen müssen. Es war so krank, was passierte, aber er kam da nicht raus.
Oscar machte ihm dieses Unterfangen deutlich schwerer. Dass der seine erste Saison fuhr, bemerkte man kaum. Er war unfassbar gut und verinnerlichte alles so verdammt schnell. Fahrerisch musste er selbst immer auf seinem eigenen Topniveau fahren, damit er Oscar im Zaum halten konnte. Aber viel schlimmer war für ihn, dass er ihm mental nicht zusetzen konnte, denn aus seinen Sticheleien machte Oscar sich deutlich weniger.
Es war echt ätzend, aber Oscar konnte ziemlich gut streiten.
Sein neuer Teamkollege war viel angriffslustiger, obwohl er oft desinteressiert wirken konnte. Er hatte echte Probleme, ihn richtig einzuschätzen, aber Oscar scheute sich nicht davor, sich mit anderen anzulegen, seine Meinung deutlich zu sagen und zurückzuschlagen, wenn man ihn anging. Eigenschaften, die ihm selbst überhaupt nicht entgegenkamen. Im Gegenteil. Das war ätzend! Das war anstrengend. Nur, er wusste nicht, was er tun sollte.
Würde er Oscar die Wahrheit sagen, dann würde dieser schnauben, ihm einen Vogel zeigen oder ihn ganz schlimm zusammenstauchen. Was auch immer Oscar tun würde, aber er rechnete nicht damit, dass er ihm glauben würde. Er würde das auch keinem sagen und wenn er damit sein Fehlverhalten begründete, würde erstrecht jeder denken, dass er das bloß erfand. Er konnte das drehen und wenden, wie er wollte, aber er kam da jetzt nicht mehr raus.
Dabei hatte er gar nichts gegen Oscar selbst. Im Gegenteil. Sie wären sicherlich sowas wie Freunde geworden, ähnlich wie mit Carlos, wenn diese Probleme nicht wären, die ihn davon abhielten und ihn dazu brachten, den anderen so anzugreifen. Irgendwie ahnte er ja auch längst, dass ihm das noch gehörig um die Ohren fliegen würde. Aus diesem Grund hatte er zumindest mal mit seiner Familie reden wollen, aber das war auch so sehr nach hinten losgegangen, dass er nun überhaupt nicht mehr wusste, was er tun sollte.
Seine Mutter war zwar liebevoll durchgenknallt, aber leider hatte sie überhaupt nicht verstanden, was er ihr versucht hatte zu erklären.
Sie war mit dem Kopf einfach immer irgendwo anders und manchmal war sie mehr wie ein erwachsenes Kind, als wie eine typische Mutter. Das machte ihm eigentlich auch nicht viel aus. Er liebte sie ja so, wie sie war, nur hätte er ihr gerne anvertraut, dass er da in etwas reingeraten war, wo er nicht selbst rauskam und sie um Rat gefragt. Leider hatte er mit sowas aber auch vorher schon gerechnet. Den heftigen Ausraster, den er seitens seines Vaters erfahren hatte, dass er mit Mädchen nie etwas würde anfangen können, hatte sie auch nie richtig wahrgenommen und wollte wohl auch gar nicht wahrhaben, wie extrem er darauf reagierte.
Wenn seine Mutter eins war, dann eine Meisterin darin, nur zu sehen und zu hören, was sie wollte. Das musste mit der Realität nicht immer etwas zu tun haben und manchmal beneidete er sie sogar darum. Denn sie war ein extrem glücklicher und fröhlicher Mensch. Jemand, der sich nicht um alles sorgte, sich nicht zu viele Gedanken machte. All das, was er selbst auch so gerne abschütteln würde, gelang ihr einfach so. Warum hatte er nicht das von ihr vererbt bekommen?
Selbst seinem Vater hatte er, in seiner Verzweiflung, schon davon erzählen wollen.
Er hatte sich natürlich fürchterlich ein abgebrochen und hatte versucht, ihm deutlich zu machen, dass er wirklich ernste Probleme hatte. Aber da waren dann nur Sprüche gekommen, dass ihn das dann hoffentlich endlich zum Mann machen würde. Was sollte er dazu noch sagen? Es hatte eben keinen Sinn, mit einem von ihnen über etwas zu reden.
Bei seinen älteren Geschwistern hatte er es dann gar nicht mehr versucht. Die Einzige, die ihn wirklich verstehen würde, war seine jüngere Schwester und der konnte er unmöglich solche Sachen erzählen. Das ging einfach nicht und aus diesem Grund behielt er das alles für sich. Es bliebe noch der Freundeskreis, den er hier in England immer noch hatte, aber was sollte er denen sagen? Die waren alle so weit weg von dem ganzen Thema und überhaupt...
Es waren recht oberflächliche und lockere Freundschaften, die er zwar schätzte, aber richtig in die Tiefe ging das nicht. Er wollte vor ihnen auch gar kein armes Opfer sein. Für sie wollte er eigentlich der alberne und unbeschwerte Lando bleiben, nur leider verschwand der immer mehr und dadurch zog er sich auch immer mehr zurück. Er hatte viele von ihnen schon seit Monaten nicht mehr gesehen.
Irgendwann, als es bereits Abend wurde, warf er einen kurzen Blick auf sein Handy.
Carlos hatte versucht, ihn anzurufen. Mehrmals. Scheinbar machte er sich seit dem Auftritt am Flughafen nun ebenfalls Gedanken um ihn. Von seiner Mutter hatte er einen verpassten Videoanruf und zehn Nachrichten, in denen sie erklärte, dass nichts wäre, dass das nur ein Versehen war, dann wollte sie noch wissen, wie es ihm ging, dann verwarf sie das, weil sie nicht wie eine besorgte Mutti wirken wollte, dann meinte sie, er solle sich mal melden, dann entschied sie, er sollte es vergessen, weil sie ihn nicht unter Druck setzen wollte...
Er seufzte...
Sie konnte so anstrengend sein. Oliver hatte auch kurz geschrieben und ihn erinnert, dass die Familie sich noch treffen wollte, bevor die Formel 1 nach Kanada weiterzog, aber er hatte nicht vor, an einem gemeinsamen Familienessen oder so teilzunehmen. Er wollte das alles im Moment einfach nicht. Seine Familie würde das wie immer nicht verstehen, nur war ihm das alles einfach zu viel. Er würde sich noch überlegen müssen, wie er das am besten abwenden konnte. Vermutlich würde er mal wieder behaupten, krank zu sein.
Das war natürlich auch keine Dauerlösung und dabei wurde ihm wieder bewusst, wie alles über ihn einstürzte. Ihm war echt zum Heulen, aber das verbiss er sich, weil das seine Situation auch nicht verbessern konnte.
Stattdessen schaute er nach, was er heute noch so verpasst hatte und stutzte.
Er hatte eine Textnachricht von Oscar. Er wusste noch, dass sie ganz am Anfang irgendwie mal die Nummern getauscht hatten. Es gab diesen Moment, in dem er hoffte, dass es anders werden würde, dass der Spuk vorbei war und hatte gehofft, dass er mit Oscar auskommen könnte und dann war es wieder losgegangen.
Er konnte sich allerdings nicht denken, was Oscar noch wollte. Er war davon ausgegangen, dass der nach seinen schnippischen Auftritten längst dazu übergegangen war, seine Nummer wieder aus seiner Kontaktliste zu löschen, weil ihm das zu dämlich war. Hatte er aber nicht getan. Stattdessen schrieb er ihn nun an, was ihn dazu brachte, verwundert die Stirn zu runzeln und seine Nachricht zu öffnen.
Was er darin las, erstaunte ihn noch sehr viel mehr. Damit hatte er überhaupt nicht gerechnet. Und er wusste sofort, wie er am liebsten reagieren würde und es doch nicht konnte. Er würde diese unangebrachte Freundlichkeit wieder nicht erwidern können und er hasste sich selbst wahnsinnig dafür.
Oscar wäre besser beraten, ihn einfach abgrundtief zu hassen, statt ihm schon wieder die Hand zu reichen.
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Papaya Clashes
Fanfic⊱ Er sparte sich lange Begrüßungen und Erklärungen lieber gleich, als er Lando abpasste. Das war der letzte Versuch, den er unternehmen würde, um im Sinne des Teams besser mit ihm auszukommen. Wenn er ihm jetzt wieder blöd kam, dann würde er sich um...