"Nach der Schule gehst du zusammen mit Enisa nach Hause, okay?"
"Mhm"
"Keine unnötigen Umwege."
"Jahaa"
"Keine fremden Leute, kein Rumtrödeln. Und wenn du zuhause bist, rufst du mich an, verstanden?"
"Na3m. Kann ich jetzt gehen?"
"Wenn du mir sagst, was du zuhause alles machen darfst, und was nicht."
"Kein Herd, kein Ofen. Snacks sind im Kühlschrank. Hausaufgaben, lesen und DVDs gucken. Niemandem die Tür aufmachen, nicht die Wohnung verlassen. Wenn es brennt, alles liegen lassen und rauslaufen."
"Shatrah. Mama wird inshaAllah um 15 Uhr von der Arbeit kommen. Das hälst du aus, oder?"
Meine Schwester schaute vom Beifahrersitz zu mir auf."Und wann kommst du?"
"Ich muss in die Uni. Und am Abend geh ich mit den Jungs in die Moschee, aber wenn du noch wach bist, wenn ich wiederkomme, lese ich dir vor dem Schlafengehen etwas vor." Sie verschränkte ihre kleinen Arme vor der Brust und starrte durch die Windschutzscheibe auf den Schulhof, der sich vor uns erstreckte. "Du bist nie zuhause. Du kommst immer erst, wenn es dunkel ist." "Habibti, ich hab viel zutun. Aber wenn meine Klausuren vorbei sind, gehen wir zusammen in den Tierpark, versprochen." Ich schob eine wirre Strähne ihres pechschwarzen Haares hinter ihr Ohr. "A3tini boßeh. Und dann geh rein. Nicht, dass du zu spät kommst."-
Der Weg zur Uni zog sich wie immer. Ich wohnte in einem kleinen Vorort von Aachen. Der Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Alle meine Erinnerungen hingen an ihr, und auch wenn ich oft genug von den ganzen Baustellen und dem grauen Himmel bekam, würde nichts in der Welt mich dazu verleiten, meine Familie zu verlassen, nur um von hier wegzuziehen.
Meine Gedanken schweiften ab. So, wie immer. Ich war verloren in dem, was sich in meinem Inneren abspielte. Lebte viel mehr in Erinnerungen, als in der Gegenwart und dachte immer 10 Schritte voraus. Ich war gestresst, und würde am liebsten alles stehen und liegen lassen, aber der Anblick von Mamas ersten grauen Strähnen und Rimas angstverzogenem Gesicht, wenn Nachts Schreie im Treppenhaus ertönten, waren zu tief in meinem Gedächtnis verwurzelt, als dass ich an mich und meinen temporären Zustand denken konnte.
Nach einer etwa halbstündigen Autofahrt parkte ich meine geliebte Schrottkarre im Uni-Parkhaus, und begab mich zur Hauptbibliothek der Hochschule. Am Ende des Semesters standen 5 Klausuren an, davon 2 in Tragwerkslehre und Mechanik und in wenigen Wochen musste ich eine Präsentation über den Brückenbau mit Stahlbeton halten. Womit ich mich, Stand jetzt, noch keine 5 Minuten auseinandergesetzt hatte. Kurz gesagt: Uni begann stressig zu werden, und wenn ich mich nicht ranhalten würde, dann würden meine sowieso schon schlaflosen Nächte noch viel länger aussehen.
Mit einem doppelten Espresso bewaffnet, joggte ich die Treppen in den Lernraum hoch, nur um erneut festzustellen, wie überfüllt es hier war. Ich spottete einen freien Platz zwischen zwei mir fremden Leuten und ließ mich auf diesem nieder. Meine einzige Vorlesung heute war um 18 Uhr, was mir ganze 9 einhalb Stunden zum Lernen verlieh.
Nach etwa 2 Stunden vollster Konzentration, riss mich ein leises Getümmel 2 Tische weiter aus meiner Trance. Mein Blick verfolgte die Geräuschquelle und blieb an einem bekannten Gesicht hängen. Amanah und 3 andere Mädchen ließen sich flüsternd auf der anderen Seite des Raumes nieder und nahmen dabei kaum ihr Umfeld wahr. Jedenfalls so lange nicht, bis Amanah ihren Blick hob und mich dabei entdeckte. Meine Reflexe waren nicht schnell genug, um entsprechend zu reagieren, und als Amanah mit einem leichten Lächeln auf ihren Lippen ihre Hand nur minimal hob, schauten auch ihre Freundinnen in meine Richtung. Ich nickte kurz, bevor ich meine Augen von der nun tuschelten Gruppe riss, und für eine kurze Pause den Lernraum verließ.
Die Mittagshitze war angenehm, während ich mich auf einer Bank vor dem Bibliotheksgebäude niederließ, um meine erste Mahlzeit des heutigen Tages zu mir zu nehmen. Einen Apfel. Fast schon automatisch schweiften meine Gedanken zu Amanah. Es war seltsam, dass sie mir innerhalb der kurzen Zeit jetzt schon zum zweiten Mal begegnet war, wobei wir es die gesamten letzten Jahre geschafft haben, uns so gut wie nie über den Weg zu laufen. Was ebenfalls eigen ist, wenn man bedenkt, dass wir seit 2 Jahren an derselben Universität studieren und seit kleinauf dieselbe Moschee besuchten.
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wär sie nicht da gewesen
RomanceViel zu früh musste der 24 jährige Bilal erwachsen werden. Viel zu früh musste er die Rolle seines verstorbenen Vaters einnehmen und dafür sorgen, dass seine Familie nicht den Abgrund traf. Wie viel Leid er dafür einstecken musste, war ihm gleichg...