kapitel 11

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"Wie sieht es eigentlich bei dir aus Amanah? Was sind deine Pläne, wenn du den Bachelor in der Tasche hast?" Ich saß vor meinem offenen Laptop und schaute den geteilten Bildschirm an. Jeden Donnerstag Nachmittag hatte ich online Quran Unterricht, da ich aufholen wollte, was ich als Kind verpasst hatte. Auch wenn es neben dem Studium oft schwierig wurde, andere Dinge reinzubekommen, war es eine meiner obersten Prioritäten, aktiv mehr über meine Religion zu lernen. Vor allem mit all den Ressourcen, die es heutzutage gab. "Wahrscheinlich direkt den Master." Schulterzuckend blickte ich meine Lehrerin an, dessen Lippen ein leichtes Grinsen trugen. "Und wie siehts aus mit Heiraten? Du bist ja langsam im richtigen Alter." Autsch. Eigentlich hatte ich mir erhofft, dass ich durch andere Beschäftigungen meinen Kopf frei bekam, aber man kannte es. Kaum hatte man ein bestimmtes Alter erreicht, wurde man nahezu täglich mit diesem Thema konfrontiert. Dua wurde bereits von 3 Typen angefragt, die alle aus demselben Freundeskreis kamen und mir hatte letzten Sommer eine ältere Frau beim Freitagsgebet ihren Sohn beworben. Hätte ihre Rede mich überzeugt, hätte ich ihn vielleicht sogar in Betracht gezogen, aber siehe da, ein Jahr später saß ich noch immer alleine in meinem Kinderzimmer.

"Bevor ich dich noch wegschrecke, lass es mich ausführen. Es ist nichts schamhaftes, heiraten zu wollen. Und lieber macht man es auf einem Weg, mit dem Allah zufrieden ist, als aus Scheu und Verzweiflung seinen Ärger auf sich zu ziehen, ßa7?" "ßa7" Ich stimmte ihr voll und ganz zu und um ehrlich zu sein, musste sie nicht weiter elaborieren, denn das waren bereits seit Jahren meine Gedanken zu dem Thema. Das einzige Problem war, dass ich aktuell von nur einer Person etwas hören wollte und mir dies eventuell Türen schloss, die mir einst meine Zukunft eröffnen sollten. "Na siehst du. Dieses Jahr hab ich 3 Paare zusammengebracht, alhamdullilah. Wenn du sagst, du bist so langsam bereit, halte ich auch für dich Ausschau. Was sagst du?" Meine Kehle fühlte sich schwer an, meine Hände umfassten sich gegenseitig, als würde ich versuchen, Halt in meiner eigenen Haltlosigkeit zu finden. Ich wollte rational und klar an das Ganze rangehen. Mir Chancen entgehen zu lassen, nur weil ich jemanden haben wollte, der keinen Anschein machte, tätig zu werden, war absurd. In wenigen Jahren könnte er eine Frau für sich gefunden haben und ich würde einsam auf der Suche nach meinem vermeintlichen Schicksal wie ein Außenstehender auf diese Zeit zurückblicken, und mir wünschen, nicht so naiv, jung und emotional gehandelt zu haben.

Auf der anderen Seite hielt ich eine Zukunft mit Bilal nicht für unmöglich. Meine Mutter sprach davon, dass er sicher im Leben stehen wollte, bevor er jemanden bewusst kennenlernen wollte. Nicht aber, dass er mich als diesen Jemanden ausschloss. Vielleicht wollte er auch einfach nur höflich sein, und die Gefühle meiner Mutter nicht verletzten, aber dann dachte ich daran, wie er sich mir gegenüber benahm. Wie er sich um mich sorgte. Wie er mich und meine Eltern respektierte. Wie er in einem Raum voller Menschen nur zu mir kam und nur mich nach meinem Wohlbefinden fragte. Es mochte sein, dass ich in simple Gesten zu viel reininterpretierte, aber die Angst mir die Chance auf den Jungen meiner Kindheit zu verbauen, obwohl sie da gewesen war - ganz egal, wie klein sie auch sein mochte - ließ mich keine vernünftige Entscheidung fällen.

Weder wollte ich ewig auf etwas warten, was nie kommen würde, noch wollte ich voreilig handeln und dann meine eigene Geschichte ohne Happy End, aber voller Sehnsucht nach der Person, die bereit für mich gewesen wäre, hätte ich mich bloß ein wenig geduldet, schreiben.

Solche Szenarien machten mir Angst, denn ich dachte an all die endlosen Gedichte, die ich kannte, in denen dunkle Tinte auf weißem Papier den Schmerz ihrer Verfasser so tiefgehend vermittelte, dass er den Konsumenten zu Tränen rührte, obwohl er nichts, als eine Aneinanderreihung von Buchstaben vor sich hatte. Ich dachte an den palästinensischen Dichter Mahmoud Darwish und eines seiner Zitate, welches ich im Alter von 14 zum ersten Mal gelesen hatte, und es so stark nachempfinden konnte, dass ich bei dem Gedanken daran, in meinen jungen Jahren bereits das gleiche durchlebt zu haben, weinte.

Ich kann dich nicht vergessen, nicht weil ich ein starkes Gedächtnis habe, sondern weil ich ein Herz habe, das niemals diejenigen verleugnet, die sich einmal darin niedergelassen haben.

Es machte mir zu der Zeit Angst, trotz meines jungen Alters bereits eine Person im Herzen zu tragen, obwohl meine Zukunft mit einer ganz anderen Person geschrieben sein könnte, und ich dieser Person gegenüber nicht unfair sein wollte. Ich wollte nicht, dass sich jemand in meinem Herz befand, der nicht zu mir gehörte und ich wollte nicht nicht zu jemandem gehören, der sich in meinem Herzen befand.

All die wirren Flausen in meinem Kopf hatten Khala Nadya schon lang genug warten lassen und ich kramte zwischen ihnen nach einer diplomatischen Antwort. "Ich werde heute Nacht inshaAllah Istikhara beten. Alle aus meinem Umfeld wissen, dass ich schon immer jung heiraten wollte. Aber die Realität sieht doch komplizierter aus, als das, was man sich vorgestellt hat. Ich gebe dir inshaAllah in den kommenden Tagen bescheid." Von meiner Antwort zufrieden gestellt nickte sie, und wir begannen mit dem Unterricht.

Im letzten Drittel der Nacht stand ich auf, um das Tahajjud Gebet und das Istikhara Gebet zu verrichten. Ich wollte nicht selbstsüchtig sein, weswegen ich mein erstes Gebet und alle Duas im Sujud meinem Umfeld, und vor allem den leidenden Seelen in Falastin widmete. Vor wenigen Monaten hatte ein Junge erneut Steine in Richtung eines israelischen Panzers geworfen. 3 erwachsene Soldaten der israelischen Armee haben ihm seine Handgelenke aufgeschlitzt und mit gebrochenen Fingern und verstümmelten Armen ins Gefängnis gesteckt. Danach gab es Ausschreitungen, was nur zu weiteren Eskalationen geführt hatte, und seither werden unschuldige Familien massakriert, vertrieben und ermordet. Wir hatten keine direkte Familie in dem Gebiet nahe Jerusalem, da wir ursprünglich aus Nablus kamen. Aber jeder Tod eines Muslims war wie der Tod eines Bruders und unsere Ummah spürte den Schmerz am eigenen Leibe, wann immer eine palästinensische Seele genommen wurde. Erst als mein Rücken im Sujud schmerzte und ich Duas für jeden meiner Bekannten sprach, betete ich das Istikhara Gebet, in dem ich um eindeutige Rechtleitung von Allah swt. bat. Ich bat ihn darum, mir meine Entscheidung zu erleichtern und mir die Wege zu eröffnen, die am besten für mich waren. Ich bat um Klarheit und darum, rational handeln zu können und mich nicht von meinen Emotionen beeinflussen zu lassen. Dass mich bereits in wenigen Tagen meine Antwort finden würde, hätte ich nicht erwartet. Und schon gar nicht, dass sie alles andere war, als das, was mein Herz zu begehren schien.

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ein etwas kürzeres kapitel, aber ich hoffe es hat trotzdem eure neugier geweckt :b

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wär sie nicht da gewesenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt