kapitel 10

91 13 9
                                    

Amanahs POV

Ausgestattet mit meiner frisch ausgeliehenen Literatur, schritt ich die wenigen Stufen zur Bibliothek hinauf und schaute mich in dem vollen Saal um. Ich seufzte bei dem Anblick der vielen zusammengepferchten Studenten. Manche Universitäten hatten Bibliotheken, die an antike Schlösser oder futuristische Lernlandschaften erinnerten. Unsere Uni hatte Räume, die nach Massentierhaltung aussahen und viel zu stickig und beengend waren. Eine wahre Elite-Uni eben. Ich fragte mich, warum bereits zu Beginn des Semesters so viele Studenten ihre Sommertage hier verbrachten, aber dann erinnerte ich mich daran, dass ich einer von ihnen war. Meine Bachelorarbeit musste am Ende des Semesters stehen, und so langsam musste ich vorankommen. Deswegen hatte ich mir für heute auch vorgenommen, den Vormittag alleine die besagte Literatur durchzulesen und zusammenzufassen, und mich erst Nachmittags mit meinen Freunden zu treffen. Wir studierten alle hier und trafen uns oft, um gemeinsam zu lernen. Dua studierte Architektur, Maryam hatte ich im ersten Semester kennengelernt und am Ende dieses Sommers würden wir gemeinsam den Bachelor abschließen und Lubna und Farah kannten Dua und ich aus der Moschee. Beide studierten Wirtschaftsingenieurswesen. Für jetzt müsste ich aber alleine auskommen. Ich suchte mir einen freien Platz, um wenig später in Rogges Erläuterungen zu den Krisen beim Übergang ins Erwachsenenalter einzutauchen.

Nach 90 Minuten vollster Konzentration und sich allmählich anbahnenden Kopfschmerzen entschied ich mich für eine Pause. Draußen war es bereits unangenehm warm, aber ich freute mich über die Sonne und setzte mich auf eine freie Bank. Der Außenbereich der Bibliothek war mindestens genauso belebt wie die Lernräume selber, und Leute unterhielten sich, rauchten in der besagten Raucherecke oder saßen auf der Wiese. Insgeheim hoffte ich, Bilal über den Weg zu laufen, aber gleichzeitig wollte ich diesen Gedanken aus meinem Kopf jagen. Nach unserer letzten Interaktion vor 2 Wochen war wenig passiert. Oder besser gesagt gar nichts.

Ein paar Mal war ich ihm begegnet. Mal in der Moschee, mal in der Uni. Wenn er mich sah, grüßte er mich flüchtig. Aber manchmal war er so gefangen in den Dingen, die er tat, dass er sein Umfeld nicht wahrnahm. Und es kratzte mein Ego, dass ich ihn immer und überall wahrnahm, sobald er sich nur annähernd in meiner Sphäre aufhielt und ich nicht im geringsten dieselbe Wirkung auf ihn zu haben schien. Ich wusste selber nicht, was ich erwartete. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass sie und Khadija über eine mögliche Zukunft geredet haben, aber Bilal schien jede Anspielung in diese Richtung abzulehnen. Er habe andere Prioritäten, er habe keine Zeit und keinen Kopf für solche Dinge. Es war mir definitiv unangenehm, zu wissen, dass er mit diesem Thema konfrontiert wurde, aber meine Mutter versicherte mir, dass niemand es vor ihm so klingen ließ, als hätte ich es initiiert. Ich hatte es auch nicht initiiert. Dennoch zog mich diese ganze Gefühlsduselei die letzten Wochen runter. Ich kam mir unglaublich dumm vor, denn durch mein Studium war mir noch viel bewusster, dass all meine Emotionen aktuell nur auf der Ausschüttung von irgendwelchen blöden Hormonen lag, auf die mein Gehirn reagierte, und mich gegen mich selber ausspielte. Abgesehen davon, dass ich mich in unrealistische Szenarien festfuhr und viel zu naiv und romantisiert über Beziehungen spekulierte. Als Bilal vor Wochen in unserer Küche saß, dachte ich sofort, es sei Schicksal und natürlich hatte sich das danach nur weiter verstärkt. Ich dachte an niemand anderen mehr, ich sah niemand anderen mehr und ich wollte endlich, dass er Initiative ergriff. Obwohl ich wusste, in was für einer Lage er sich befand. Obwohl ich selber mit meiner Bachelorarbeit mehr als genug um die Ohren hatte. Und es frustrierte mich nur noch mehr, dass ich mir all dem bewusst war, und trotzdem nicht in der Lage war Kontrolle über meine Emotionen zu gelangen.

Manchmal fragte ich mich, ob sich so Herzschmerz anfühlte. Aber dann erinnerte ich mich an damals. Unser letztes richtiges Treffen vor 12 Jahren. Und die Tage danach. Ich hatte Liebeskummer kennengelernt, bevor ich überhaupt wusste, was Liebe war. Man konnte es nennen, wie man wollte. Was ich aber wusste, war, dass Kinder eine bedingungslose Bindung haben konnten. Keine romantische Liebe. Nur eine Verbundenheit, die beide kannten und beide spürten, und die man uns nahm.

wär sie nicht da gewesenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt