16 Jahre zuvor
"Wer es schafft, höher zu schaukeln, gewinnt." Meine Schaukel schwang bereits gefährlich hoch, aber da ging noch mehr. "Und was gewinnt man?" Ich verdrehte die Augen. "Gar nichts. Man hat einfach gewonnen." "Das ergibt keinen Sinn." Das war, was sie sagte. Und trotzdem begann sie stärker zu schaukeln. Sie wollte gewinnen, aber nicht mit mir. Als ich den höchsten Punkt erreicht habe, wartete ich darauf, dass die Schaukel den perfekten Winkel hatte und sprang mit einem siegessicherem Schrei ab. "Jetzt du!" Amanahs Schaukel hatte inzwischen auch beachtlich an Höhe zugenommen, und sie sah etwas ängstlich aus. "Ich springe nicht. Aber ich habe gewonnen." Ich griff nach ihrem Schaukelseil, um sie etwas zu verlangsamen, da sie fast schon panisch aussah. "Ich war viel höher als du." Das Tempo hatte abgenommen und sie ließ die Schaukel in einem gleichbleibenden Takt ausschwingen. "Du bist auch 2 Jahre älter. Das ist unfair." Jetzt lachte ich. "Wenn du meinst." Immernoch voller Adrenalin geladen, setzte ich mich zurück auf meine Schaukel und schwang lediglich leicht vor und zurück.
Ein Junge tauchte vor uns auf, seine Miene eindeutig auf die Schaukel von Amanah fixiert. Wir reservierten die einzig beiden Schaukeln auf dem kleinen Spielplatz, aber wir waren noch nicht einmal 5 Minuten hier und hatten auch gewartet, bis beide endlich frei geworden sind. "Geh runter." Er war motzig und verschränkte die Arme vor der Brust, während er sich vor Amanah stellte, sodass sie nicht weiterschaukeln konnte. Sie hielt an, blieb aber auf der Schaukel sitzen. "Ich will jetzt schaukeln." Ihr Blick traf hilfesuchend auf meinen, und ich sah, wie sie bereits aufstehen wollte, und dem unfreundlichen Jungen ihren Platz geben wollte. Ich schüttelte meinen Kopf und sie blieb sitzen. "Du kannst auch nett fragen. Du musst sie nicht so blöd angehen." Erst jetzt schaute er mich an. "Hab ich mit dir geredet, du Affe?" Ein scharfer Schmerz durchzog mich und meine Fäuste ballten sich um die beiden Seile, die ich fest umschlossen hielt. Noch bevor ich etwas erwidern konnte, schallte Amanahs laute Stimme durch den Platz. "Spinnst du? Jetzt geh ich erst recht nicht runter. Und nenn ihn nie wieder Affe, du Schwein." Trotz meiner nun schlechten Laune brachte Amanahs Schlagfertigkeit ein Schmunzeln auf meine Lippen. Die meiste Zeit über war sie schüchtern, aber wenn ihr jemand auf die Füße trat, wurde sie zu einer kleinen Löwin.
Der Junge schritt auf sie zu und schubste sie kurzerhand so, dass sie ihr Gleichgewicht verlor und nach hinten weg auf ihren Rücken fiel. Ein schmerz tönender Laut entwich ihren Lippen und wenig später Schluchzen ihrerseits, bevor sie sich langsam aufrappelte. Das war einer zu viel und geladen sprang ich von meiner Schaukel auf. "Bist du dumm?" Meine beiden Hände packten den Jungen am Kragen und schubsten ihn so lange zurück, bis er über seine eigenen Füße stolperte und auf seinem Hintern landete. "Mädchenschläger. Bist du zu schwach, um dich mit dem Affen hier anzulegen?" Meine Stimme war laut und inzwischen hatten sich unsere Mütter um uns versammelt. Man hörte vereinzelte "hey!"s und "STOP!", aber er hatte das hier verdient. Ich trat in den Rindenmulch, der um uns herum verteilt war, sodass eine Ladung auf ihm landete und erst als seine Mutter sich schützend vor ihn stellte, und mich böse anschaute, als sei ich der Böse gewesen, gab ich nach. Meine Mutter zog mich grob am Arm zurück und schimpfte auf Arabisch und Amanahs Mama tröstete Amanah, die noch immer weinte. Wütend und verletzt entriss ich mich meiner Mutter und ging zu Amanah. "Alles okay?" In ihren wirren Locken hatte sich ebenfalls Rindenmulch verfangen und ich zog sie ihr vorsichtig aus den Haaren. Unsere Mütter unterhielten sich inzwischen mit der, des Jungens, aber es war mir absolut egal, was sie sagten. "Danke." Amanah wischte sich mit dem Handrücken über ihre nassen Augen und nahm dann meine Hand. "Er ist blöd. Hör nicht auf ihn." Ich sagte nichts dazu. Es war nicht das erste Mal, dass ich Affe genannt wurde. Aber das machte es nicht besser.
Als es das erste Mal passierte, hatte ich noch nicht verstanden, dass es eine Anspielung auf meine Hautfarbe war. Ich dachte, es sollte eine einfache Beleidigung sein. Als es mir irgendwann sogar von Erwachsenen zugerufen wurde, und Leute Affengeräusche in meiner Gegenwart machten, hatte ich es meinem Vater erzählt. Und dann gab er mir das Gespräch. Er erzählte mir, dass mir solche Kommentare immer wieder begegnen werden und nur Idioten sowas sagten. Aber die Welt war leider voller Idioten. Er erzählte mir, dass ich es schwieriger in der Schule haben würde. Schwieriger, wenn ich irgendwann einen Job oder eine Wohnung suchen würde. Und sogar dann, wenn ich eines Tages heiraten wollen würde. Er erzählte mir, wie lange Mama mit ihrer Familie diskutieren musste, bis sie akzeptierten, dass sie einen schwarzen Mann heiraten wollte, und ich sagte ihm, dass er doch gar nicht schwarz sei, sondern braun. Und er lachte und sagte, ich hatte recht, aber die Menschen dachten immer nur in schwarz und weiß. Zu dem Zeitpunkt war ich fünf. Aabo hatte mich die ganze Zeit über auf dem Schoß gehalten und mir gesagt, dass es nicht immer leicht war, aber dass ich mir eine harte Schale aneignen musste. Ich solle die Kommentare ignorieren, und niemals meinen Wert an ihnen messen. Denn das, was am Ende zählte, war der Kern. Das Herz, der Charakter und das, was man in der Birne hatte. Und er sagte mir, dass die Hautfarbe vor Allah swt keine Rolle spielte, sondern die Taten. Und das reichte mir. Am Ende umarmte er mich, und sagte, wie stolz er auf mich war. Und ich wünschte, er hätte es nie getan, aber dann entschuldigte er sich bei mir. "Es tut mir leid Bilal, dass du wegen mir diese Schwierigkeiten bekommst. Wäre ich weiss, würde niemand etwas sagen."
Als ich in mein Zimmer ging, weinte ich. Aber nur kurz. Nichts war für mich eine größere Ehre, als dass man mir ansah, dass ich der Sohn meines Vaters war. Mein Vater war der beste Mann, den ich kannte. Und ich war stolz darauf, so auszusehen, wie ich aussah.
Trotz des Gespräches nagte es jedes Mal an mir, wenn blöde Kommentare kamen. Aber inzwischen erzählte ich es nicht mehr meinem Vater, weil ich nicht wollte, dass er traurig wurde. Manchmal erzählte ich es Amanah, weil ich wusste, dass es ihr egal war, ob ich weiß, schwarz, blau oder grün war. Sie mochte mich, weil ich Bilalo war. Und ich mochte sie, weil sie Amanah war.
Ihre Hand hielt meine noch immer fest, aber sie hatte sich beruhigt. Ihre Tränen waren getrocknet und ihre glasigen Augen betrachteten mich. "Bilalo?" "Mh?" "Du weißt, dass er nur eifersüchtig auf dich ist und deswegen so blöde Sachen sagt, oder?" Ich nickte, aber ich wusste es nicht. Worauf sollte er eifersüchtig sein. "Wenn man selber unglücklich ist, will man andere unglücklich machen. Das hat Frau Negin letztens gesagt." Ich nickte erneut, und drückte sanft ihre Hand und dann lächelte sie. Ihre Nase zog sich kraus und ich konnte nicht anders, als ebenfalls zu lächeln. Weil das war die Wirkung, die Amanah auf mich hatte. Mit ihr konnte ich nie lange schlecht gelaunt sein. Sie zog mich an meiner Hand in Richtung unserer Mütter, die das Gespräch bereits beendet hatten und ihre Taschen packten. Dort angekommen, wurden wir beide sorgfältig beäugt, und als sie sicher waren, dass wir unversehrt waren, beruhigten sie sich sichtlich. "Bilal, du darfst keine anderen Kinder schlagen." Amanah und ich begannen gleichzeitig zu protestieren "Er hat-" "Ich-" Meine Mutter hob die Hand. "Lasst euch niemals von irgendjemanden beleidigen oder ärgern. Und steht immer so füreinander ein, wie heute. Das ist sehr sehr wichtig." Saloua grinste, und meinte Mutter auch, und ich wusste, dass sie es nicht ganz so schlimm fanden, was ich gemacht hatte, aber etwas sagen mussten, damit sie kein schlechtes Vorbild waren. "Ich hab ihn nicht geschlagen, nur geschubst." Lachend wuschelte mir Saloua durch meine Haare. "Versuch es das nächste Mal nur mit Worten, oder ruf uns, okay Habibi?" "Er hat mich zuerst geschubst. Er hat es verdient." Amanah verschränkte trotzig die Arme und Saloua nickte. "Ich weiß, albi. Er hat es verdient und ich bin stolz auf Bilal. Aber wenn andere blöd sind, sind wir es nicht auch. Richtig?" Ich diskutierte nicht weiter, weil ich verstand.
"Yallah wollt ihr Eis essen?" Wenn das keine Belohnung war...
Wir saßen auf der Bank neben der Eisdiele. Amanah hatte, wie immer, Schlumpfeis genommen und ich war an meiner neuen Idee dran, ein Mal alle Sorten durchzuprobieren. Heute war Walnuss dran. Es schmeckte ernüchternd und ich hatte damit gerechnet, aber ich wollte nicht schummeln, also musste ich da durch. Unsere Mütter saßen auf der Bank gegenüber, redeten, lachten und schauten ab und zu zu uns auf, um sicherzugehen, dass alles okay war. Ich fragte mich, woher sie so viele Gesprächsthemen bekamen, denn Amanah und ich saßen manchmal auch einfach schweigend nebeneinander. Kein unangenehmes Schweigen, weil uns nichts mehr einfiel, sondern eins, wenn wir beide einfach eine kurze Minute Ruhe brauchten, oder eine Situation keine Worte bedarf. "Weißt du, dass du mein bester Freund bist, Bilalo?" Natürlich wusste ich das. Sie war auch meine beste Freundin. "Ja. Wieso?" Sie zuckte mit den Schultern. "Ich wollte nur, dass du das weißt. Weil du der Beste bist." Grinsend stieß ich meine Schulter gegen ihre und sie kicherte, ehe sie sich wieder ihrem Eis widmete. "Du hast Eis auf der Nase." Ich nahm die Serviette, die um mein Eishörnchen gewickelt war und lehnte mich zu Amanah, sodass ich einen freien Blick auf ihr Gesicht hatte. Ihre großen Augen betrachteten mich, während ich vorsichtig das Eis von ihrer Nase wischte. Dann sah ich den Blitz aus dem Augenwinkel. Meine Mutter hatte ein Foto gemacht.
-
es würde mich sehr freuen, wenn die stillen leser votes und feedback da lassen würden, damit meine motivation zu schreiben bleibt :)
danke für 1k und alle, die regelmäßig liebe da lassen <333
wie gesagt, gerne konstruktive kritik äußern:
DU LIEST GERADE
wär sie nicht da gewesen
RomanceViel zu früh musste der 24 jährige Bilal erwachsen werden. Viel zu früh musste er die Rolle seines verstorbenen Vaters einnehmen und dafür sorgen, dass seine Familie nicht den Abgrund traf. Wie viel Leid er dafür einstecken musste, war ihm gleichg...