Amanah POV
Gestern noch trug ich den gesamten Tag über ein Lächeln auf den Lippen, wegen der kleinen Interaktion, die sich zwischen Bilal und mir ergeben hatte. Heute, nicht einmal 24 Stunden später, fühlte ich mich wie gelähmt, wegen der Neuigkeiten, die meine Mutter mir soeben preisgab. Ich hatte eine Antwort auf mein Gebet erhalten...
1 Tag zuvor
Mit fünf massiven Büchern über Entwicklungspsychologie beladen, die ich alle bereits durchgearbeitet hatte, balancierte ich die lange Straße bis zur Bibliothek entlang. Ich war reizüberflutet und mehr als überfordert, mit meiner tonnenschweren Tasche, den Büchern in der Hand und meiner Wasserflasche, die unter meinem Arm klemmte und jederzeit auf den Boden zu fallen schien. Zu allem Überfluss wehte mein Kopftuch mir andauernd ins Gesicht, und ich war kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Der Schlafentzug, der aus meiner intensiven Literaturrecherche resultierte, half auch nicht grade weiter und ich versuchte mich daran zu erinnern, dass ich bald inshaAllah meinen Bachelor in der Tasche haben würde.
"Wow! Amanah, kann man dir helfen?" Ich erkannte seine Stimme sofort, und als er meinen hastigen Schritten auswich und hinter dem Stapel an Büchern zum Vorschein kam, stieg mein Puls auf einen ungesunden Rhythmus. Noch bevor ich etwas erwidern konnte ergriff er die Bücher, sorgfältig, ohne mich dabei zu berühren, und ging neben mir her. "Das war nicht nötig, aber barakAllahu feek. Vielleicht begegnet man sich ja irgendwann mal auch in einem anderen Kontext, in dem du nicht immer eingreifen musst, weil ich so hilfsbedürftig bin." Den letzten Satz murmelte ich lediglich vor mich hin, aber als ich ein Schmunzeln auf Bilals Lippen sah, musste auch ich grinsen. Es war mir unangenehm, dass unsere Begegnungen mich aktuell nicht von meiner besten Seite zeigten, aber bevor ich zu viel darüber nachdenken konnte, setzte mein ehemaliger bester Freund zum Reden an. "Das macht mir nichts. Außerdem weiß ich, wie überfordernd Uni manchmal sein kann." Ich schaute zu ihm auf, sein Blick starr auf den Boden gerichtet.
Wir liefen eine Weile still schweigend nebeneinander her und gerade, als es begann unangenehm zu werden, ergriff Bilal das Wort. "Ich hab gestern zufällig ein altes Video von uns gefunden." Mein Herz schlug höher aber seine veränderte Miene zeigte, dass er fast schon bereute, die Worte ausgesprochen zu haben. "Entschuldige. Das war- unangebracht. Ich-" "Nein, nein. Alles gut." Ich lächelte ihn an, auch wenn er nicht gucken würde, weil seine Blicke konstant gesenkt waren, aber er nickte trotzdem stumm. "Versteh mich nicht falsch. Ich hab gestern die Festplatte mit den alten Videos und Bildern von meinem Vater angeguckt und- da war eins in dem du auch warst. Das war alles." Eine Traurigkeit überfuhr mich, doch Bilal zeigte kein Fünkchen an Emotion. Lediglich das kaum merkbare Hüpfen seines Adamsapfels verriet, was in seinem Inneren abging. "Ich weiß nicht, warum ich das gerade erzählt habe" gestand er, und bevor er sich entschuldigen konnte, griff ich ein. "Was haben wir im Video gemacht?" Er räusperte sich kurz und zuckte dann mit den Schultern. "Nichts. Gespielt, so wie immer. In dem Innenhof von unserer früheren Wohnung. Mein Vater und meine Mutter waren da und haben uns aufgenommen." Noch immer hämmerte mein Herz unerbittlich gegen meine Brust, in der sich eine angenehme Wärme ausgebreitet hatte. Er starrte stur nach vorne, seine Stimme monoton. "Wie ist es eigentlich-? Seitdem... 3ammo Abdu, also- seitdem er zu Allah zurückgekehrt ist? Ich wollte schon seit Ewigkeiten fragen, wie es dir damit geht. Nur hatte ich damals nicht die Möglichkeit dazu." Ich wusste nicht, woher mein plötzliches Selbstbewusstsein kam. Vielleicht wegen dem gestrigen Istikhara Gebet, oder weil Bilal es war, der auf zuerst mich zugekommen war. Aber jetzt war es sowieso zu spät, die Worte wieder zurückzunehmen. "Naja, ich glaube den Wenigsten fällt es leicht, ihren Vater zu verlieren." Er zog eine Grimasse, die von der Ernsthaftigkeit des Themas ablenkte, und schritt die wenigen Stufen zur Bibliothek hinauf. Ich noch immer neben ihm. "Aber wir kommen ganz gut zurecht, alhamdullilah. Allah hat uns viel Barakah gegeben, in dem was wir tun." Mein ganzer Körper wurde warm. Die Art und Weise, wie dankbar er seine Lage beschrieb, trotz dem, was ihm in jungen Jahren widerfahren war, war nichts, was man häufig zu Gehör bekam. Und gleichzeitig tat es mir leid, wie unverletzlich er sich zeigte. Als würde er nichts empfinden. "Naja, genug davon, wir sind da."
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wär sie nicht da gewesen
RomanceViel zu früh musste der 24 jährige Bilal erwachsen werden. Viel zu früh musste er die Rolle seines verstorbenen Vaters einnehmen und dafür sorgen, dass seine Familie nicht den Abgrund traf. Wie viel Leid er dafür einstecken musste, war ihm gleichg...