Heute war mein erstes richtiges Treffen mit Yunus. Richtig, im Sinne von, wir würden erstmals eine vernünftige Konversation miteinander führen. Ausgemacht war eine Verabredung im Park in der Nähe von der Uni. Lubna und Dua würden mich begleiten, damit ich nicht komplett alleine mit ihm war und bis dahin versuchten wir uns in der Bibliothek zu konzentrieren. Ich auf die noch immer nicht stehende Einleitung meiner Bachelorarbeit, Dua auf irgend eines ihrer Projekte, von denen ich nichts verstand und Lubna auf ihr Buch, welches nicht im entferntesten mit Uni im Zusammenhang stand. Vielleicht hätte ich tatsächlich bis nach den Bachelor warten sollen, bevor ich jemanden kennenlernte, aber am Ende kam alles so, wie es kommen sollte. Zwanghaft versuchte ich mich die nächsten zwei Stunden unbeirrt von dem anstehenden Treffen zu fokussieren und als um 15 Uhr die pralle Mittagssonne deutlich am Himmel stand, hatte ich die Einleitung und das Inhaltsverzeichnis fertig runtergeschrieben.
"Ich glaube, mehr kriege ich heute nicht auf die Reihe". Dua fertigte Zeichnungen auf ihrem Laptop an und schielte grinsend zu mir rüber. "Darauf hab ich gewartet." Ohne zu zögern klappte sie ihren Laptop zu und begann ihre Sachen einzupacken, Lubna tat es ihr gleich. Zu Beginn hatte ich außer meiner besten Freundin niemandem davon erzählt, aber spätestens als seine Familie bei mir zuhause war, hielt ich es für angemessen, meine engen Freunde einzuweihen. Bis auf Dua waren alle erfreut. Lubna und Farah kannten Yunus flüchtig aus der Moschee und wir alle hatten einen positiven Eindruck von ihm. Maryam kannte ihn nicht, aber war glücklich darüber, dass ich jemanden kennenlernte. Ich hatte ihnen nie von Bilal erzählt, weil ich sie zu einem Zeitpunkt kennenlernte, in dem er keine Präsenz in meinem Leben hatte. Dementsprechend wussten sie nicht, dass ich noch immer nicht ganz entschlossen war. Dua hingegen schon. Und sie wusste es nicht nur, sondern merkte auch, dass ich mich die letzten Tage über sehr verkopft hatte. Ich ging nicht mehr zur Dienstagssitzung, um Bilal nicht zu begegnen. Ich sprach selbstverständlich nicht mehr über ihn, auch aus Respekt Yunus gegenüber und war erleichtert darüber, ihm seit besagtem Tage nicht mehr über den Weg gelaufen zu sein. Und während ich versuchte nach vorne zu blicken, sprach Dua es jedes Mal an, wenn wir nur zu zweit waren. Dass ich ernster war, als sonst. Mich versuchte von Yunus zu überzeugen, obwohl wir nicht zusammen passten. Wie sehr ich jedes Mal gestrahlt hatte, wenn ich über Bilal sprach . Ich versuchte all das zu ignorieren, denn letzten Endes lag nicht alles in meiner Hand. Und ich fand Yunus nett.
"Lasst uns beten, bevor wir losgehen. Wir haben noch eine halbe Stunde." Dua und ich nickten zustimmend auf Lubnas Vorschlag und wir begaben uns zu dem Raum, den unsere Uni für religiöse Praktiken zur Verfügung gestellt hatte. Die dort stattfindenden religiösen Praktiken waren Muslime, die beteten. Etwas anderes hatte ich dort noch nie mitbekommen. Ich stieß die schwere Tür auf und wollte gerade eintreten, als mir jemand entgegenkam. Bilal.
Sein Blick war auf den Boden fixiert, während er zurückschritt, die Tür aufhielt und darauf wartete, dass wir zuerst reingingen. "Was machst du? Geh rein." Lubna schob mich langsam durch die Türschwelle und erst da schaute Bilal hoch. Er betrachtete mich. Eine Sekunde länger als sonst. Sein Gesichtsausdruck neutral. Keine Reaktion ablesbar. Dann senkte er den Blick, wartete, bis wir alle durch die Tür getreten waren und verließ den Raum. Die Tür fiel dumpf hinter ihm ins Schloss. Dua schaute mich wissend an, aber ich ignorierte sie. Ebenso, wie meine kalten Hände und den verschnellerten Puls. "Alles okay bei dir?" Lubna lachte, während sie drei Gebetsteppiche aus einem der Regale holte. "Ja." Ich presste ein unechtes Lachen hervor, nahm ihr einen der Teppiche ab und legte ihn vor mich hin. "Männliche Interaktion. Bin kein Profi darin." Meine Stimme klang dünn, aber ich versuchte mit einem Grinsen meine Glaubhaftigkeit zu untermauern. Duas kritischer Blick war deutlich auf mir zu spüren.
"Wie geht's dir so?" Meine schwitzenden Hände hielten die kleine Schokoladenbox, die Yunus mir mitgebracht hatte, fest umklammert. "Alhamdullilah, gut. Und dir?" Wir saßen auf einer Bank im Park, Lubna und Dua irgendwo in der Nähe, aber nicht in meiner Sichtweite. Zwischen uns beiden genügend Distanz. Mir war unangenehm warm unter meiner langen Abaya und ich spürte vereinzelte Schweißperlen meinen Nacken runterlaufen. "Kann mich nicht beschweren, alhamdullilah. Nach letztem Mal kann es ja nur noch besser werden." Er lachte und ich verzog meine Lippen zu einem gezwungenen Grinsen. Seine braunen Haare waren heute etwas weniger gestyled, als die Woche zuvor und vereinzelte Strähnen klebten von der schwülen Hitze an seiner Stirn. "Also..." Er verknotete leicht nervös seine Hände in seinem Schoß und blickte unentschlossen umher. "Vielleicht können wir uns einfach kurz... vorstellen? Sagen, was uns so wichtig ist. Einfach ein bisschen mehr über den anderen erfahren?" Ich wollte es ihm nicht schwer machen, aber mein Kopf war wirklich wie leer gefegt. "Ja, klingt gut." Ich lächelte zustimmend und er nickte. "Okay. Yunus, 26, Bachelor in Maschinenbau, eine ältere Schwester und zwei jüngere Brüder. In meiner Freizeit bin ich viel in der Moschee, ich fotografiere gerne und ansonsten bin ich gut mit meinem Job und der Uni beschäftigt." Er raufte seine Haare, während er nach weiteren Dingen suchte, die er mir über sich selbst mitteilen konnte. "Was mir grundsätzlich wichtig für meine zukünftige Partnerin ist, ist, dass sie religiös ist. Das hatten wir ja schon. Aber auch, dass sie bereit ist wegzuziehen, wenn mein späterer Job das erfordert. Familie sollte Priorität sein. Ich möchte inshaAllah irgendwann Mal 5 Kinder haben. Drei Söhne und zwei Töchter." Ich wischte meine nassen Hände an dem Stoff meiner Abaya ab und blickte die sich vor uns erstreckende Wiese an. "Das ist... sehr spezifisch." "Ja, ja ich weiß. Natürlich ist das eine Wunschvorstellung." "Okay. Wie ist so dein Verhältnis zu deinen Geschwistern?" Auf der Wiese jagten Hunde nach geworfenen Bällen und Ästen, Freunde und Pärchen machten Picknicks und Studenten lasen alleine im Schatten der vereinzelten Bäume. "Gut. Meine Schwester ist wie eine zweite Mutter für uns und meine Brüder mitten in der Pubertät. Man kennts. Aber unsere Familie ist schon sehr eng." Ich nickte. "Bist du oft in Jordanien?" Yunus war Palästinenser aus Jordanien. Vermutlich wurde seine Familie während der Nakba vertrieben und seither im benachbarten Staat ansässig. "Als Kind öfter. Das letzte Mal war ich vor zwei Jahren dort." Noch mehr Nicken. "Und wie siehts bei dir aus?"
DU LIEST GERADE
wär sie nicht da gewesen
RomanceViel zu früh musste der 24 jährige Bilal erwachsen werden. Viel zu früh musste er die Rolle seines verstorbenen Vaters einnehmen und dafür sorgen, dass seine Familie nicht den Abgrund traf. Wie viel Leid er dafür einstecken musste, war ihm gleichg...