Verschwitzt und außer Atem ließ ich die Haustüre hinter mir leise ins Schloss fallen. Rima schlief vermutlich schon. Meine Mutter hingegen saß auf dem kleinen ausgefransten Sofa im Wohnzimmer; ihre Augen auf mich fixiert. "Bist du sicher, dass es gesund ist, so lange zu laufen?" Ich zog einige Male tief Luft in meine Lungen, ehe ich den kurzen Flur zu ihr durchquerte, um ihr einen begrüßenden Kuss auf die Stirn zu drücken. "Es beruhigt mich, Mama. Und wenn ich alt bin, wird es mein Körper mir inshaAllah danken" Sie legte eine Hand an meine Wange und lächelte schwach. "Du bist genauso wie Aabo. Musst immer doppelt so viel Energie geben, wie die anderen. Essen ist in der Küche, yallah mach dich frisch und iss etwas." Ich liebte meine Mutter. Ich liebte meine Mutter und meinen Vater und meine Schwester mehr als alles und jeden anderen auf dieser Welt. Und jedes Mal, wenn man mich mit meinem Vater verglich, fühlte es sich so an, als würde man mir die Welt vor die Füße legen. Ein Kompliment, welches ich nicht einmal ansatzweise verdiente. Mein Vater war ein Held. Für jeden, der ihm jemals in seinem zu kurzen Leben begegnet ist. Ich hingegen nur ein erbärmlicher junger Mann, der vergeblich versuchte, das zusammenzuhalten, was bei seinem Tod zerrissen ist.
7 Jahre zuvor
Mein Herz fühlte sich so schwer an, wie noch nie zuvor. Als würde ein eiserner Anker ihn runter bis an meine Fußsohlen ziehen. Und vielleicht war es das, was ich wollte. Von der Schwere bis unter den Fußboden gezogen werden und dort verschwinden. Vielleicht wollte ich, dass die ganze Welt verschwand, und alle, die auf ihr waren, weil vor zwei Tagen meine gesamte Welt mit einem Mal von mir gerissen wurde. Ich stieg in den Beifahrersitz.
Meine Mutter auf der Rückbank.
Eine einjährige, vaterlose Halbwaisin auf ihrem Schoß.
Aabo war überglücklich, als er zum ersten Mal meine Schwester in den Armen hielt. Wer hätte gedacht, dass er sie nie aufwachsen sehen dürfte. Ich hörte meine Mutter schluchzen. Und ich wusste, dass sie versuchte, stark zu bleiben. Aber ich hatte sie auch nachts gehört. Nachts, als sie glaubte, ich schlafe schon, und dann in hysterisches Heulen ausgebrochen war. Wenn man mich fragen würde, wie ich meinen aller schlimmsten Albtraum beschreiben würde, dann würde ich die letzten zwei Nächte beschreiben. Wie ich in die Dunkelheit meines Zimmers starrte, während ich mich leer und trotzdem bleischwer fühlte. Wie ich fühlen konnte, dass dieses Haus nicht mehr mein Zuhause war. Und wie meine Mutter, während sie versuchte Tagsüber nichts von ihrem Schmerz preiszugeben, Nachts alles in seelenerschütternden Tönen von sich weinte. Der Tod einer Person, die man sein gesamtes Leben über geliebt, geehrt und bewundert hatte, ist eine Last, die versucht, einen umzubringen. Dabei zuzusehen, wie die andere Person, die man genauso liebt, ehrt und bewundert, daran kaputt geht, bringt jedes Fünkchen Leben, was noch in einem schlummert, augenblicklich um. Ich durfte es ihr nicht erschweren, also versuchte ich mich zusammenzureißen. Ich hatte seit dem Herzinfarkt meines Vaters nicht ein einziges Mal geweint. Und ich wusste nicht, ob das gesund oder normal war, denn in mir schrie alles danach, mich auf der Stelle aufzulösen, zu verschwinden und nie wieder in einer Welt aufzuwachen, in der es meinen Vater nicht gab. Aber die Tränen kamen nicht. Und vielleicht war dies angesichts der labilen Familiensituation gerade ganz passend."Bilal Habibi, wir sind da."
Es war ein dünnes Flüstern, was mich aus meiner Trance riss. Ich starrte aus der Windschutzscheibe. Auf die Menge, die sich vor der Moschee versammelt hatte. Auf die dazu strömenden Menschen, die alle kamen, um für meinen Vater zu beten. Weil er tot war. Ich merkte nicht, was ich tat. Es war, als wären es einstudierte, automatische Bewegungen, die mein Körper ohne Beachtung meines Geistes durchführte.
Ich stieg aus dem Auto. Schritt durch die Menschenmenge. Das Raunen, was durch ihre Gespräche entstand, hörte ich nur dumpf, als würde ich aus der Ferne zusehen.
Einige Leute warfen mir mitleidige Blicke zu. Andere umarmten mich, schüttelten mir die Hand.
"La hawla wa la quwata illa billah"
"Inna lillahi ua inna ilayhi raji'un"
Ich wollte weg von all den Menschen. Weg von all den Stimmen, die sich in mein Gehirn einnisteten. Ich trat in den Eingang der Moschee. Meine Geschwindigkeit verschnellerte sich, bis ich im Gebetsraum angekommen war.
![](https://img.wattpad.com/cover/349167493-288-k582222.jpg)
DU LIEST GERADE
wär sie nicht da gewesen
RomanceViel zu früh musste der 24 jährige Bilal erwachsen werden. Viel zu früh musste er die Rolle seines verstorbenen Vaters einnehmen und dafür sorgen, dass seine Familie nicht den Abgrund traf. Wie viel Leid er dafür einstecken musste, war ihm gleichg...