Bilals POV
Ich stieg in mein Auto und blieb erstmal einige Minuten sitzen. Ich musste all das Geschehene sacken lassen und meine Gedanken sortieren. Ich wusste nicht, wieso ich Amanah zur Dienstagssitzung eingeladen hatte. Nicht, dass ich nicht wollte, dass sie kommt. Jeder sollte von diesen Sitzungen profitieren, und es freute mich, wenn ich mehr Leute dazu brachte, sich in der Religion weiterzubilden. Aber ihre Präsenz hatte eine Wirkung auf mich, und ich war in keinster Position, dies aktuell zuzulassen. Es war nichts, was ich nicht unter Kontrolle hatte. Primär war es bloß, das Interesse mehr über ihr aktuelles Leben zu erfahren. Und nach heute vermutlich noch der Beschützerinstinkt, den ich ihr gegenüber schon damals sehr stark ausgeprägt hatte. Als wir noch Kinder waren.
Ich dachte an Walids Worte. "Ist er der schwarze Junge von den Kinderfotos in deinem Zimmer?"
Kinder waren immer so unschuldig.
Aber ich war kein Kind mehr.
Wir waren keine Kinder mehr.12 Jahre zuvor
"Wohin gehst du, Mama?"
"Ich treffe mich mit Saloua."
Meine Mutter stand vor dem Spiegel und wickelte sich den schwarzen Hijab um den Kopf.
Warum hat sie mir nicht früher Bescheid gesagt, damit ich noch Zeit hatte, mich fertig zu machen. "Ohne mich?" Sie befestigte das Ende mit einer Nadel, bevor sie sich zu mir richtete, um mir ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. Ich war in letzter Zeit um einiges gewachsen. Nur noch wenige Zentimeter, und ich war so groß wie sie. "Na3m. Ohne dich. Mama, guck, wir sind nur Frauen. Ich gehe zu Saloua nach Hause. Adnan und ihr Mann sind nicht da.""Aber Amanah?"
Ich verstand es nicht. Wieso durfte sie dabei sein, aber ich nicht?
"Amanah ist ein Mädchen."
"Ich habe mich davor auch immer mit Amanah getroffen."Es war schon länger her, dass ich das letzte Mal Amanah gesehen hatte. Am Anfang ist es mir nicht aufgefallen. Dass meine Mutter sich alleine mit Saloua traf. Dass immer eine Ausrede kam, als ich gefragt habe, wann Amanah und ich uns verabreden durften. Das letzte Mal war schon Monate her. Aber ihr war es da schon aufgefallen.
"Ich glaube, unsere Mamas wollen nicht mehr, dass wir uns so oft sehen." Wir saßen auf der Bank von dem Spielplatz, der nach unserer Messung in der Mitte zwischen unseren beiden Wohnungen lag. Sie hatte ihre Beine hochgezogen und ihr Kinn auf den Knien abgelegt. Ihr Arm berührte meinen, aber nur ganz leicht. "Wie kommst du darauf?" Ihre dunklen Augen schauten mich an. Ihr keckes Grinsen war nicht mehr da. Stattdessen sah sie traurig aus. "Mama hat mir gesagt, dass wir beide älter werden. Und wir uns jetzt auf die Schule konzentrieren müssen. Du gehst auf eine andere Schule, als ich und wir haben jetzt andere Freunde."
Ich glaubte irgendwo zu verstehen, was sie meinte. Aber irgendwo verstand ich es auch nicht.
"Und außerdem-" Sie wischte sich eine wirre Strähne ihres lockigen Haares hinter ihr Ohr. Ich mochte ihre Haare. Ich mochte ihre Haare und ihre Augen. Und wie sich ihre Nase zusammenzog, wenn sie lachte. Ich mochte alles an ihr. "- außerdem sagt Mama, dass man in unserem Alter nicht mehr normal befreundet sein kann. Weil sich vielleicht einer verliebt." Es war das erste Mal in dieser Konversation, dass sie mich nicht mehr anschaute. Stattdessen starrte sie geradeaus. Der warme Sommerwind fuhr ihr durch die Haare, bis sie alle in verschiedene Richtungen wehten. Ich hatte das Bedürfnis, sie ihr aus dem Gesicht zu machen.
Also tat ich es.
Erst links, dann rechts machte ich behutsam ihre Strähnen hinter ihre Ohren. Ich spürte, wie sie mich dabei anschaute. Aber ich guckte sie nicht an. "Glaubst du das stimmt?" Ihre Stimme war nur noch ein leises Flüstern. Sie klang traurig. "Was stimmt?"
"Dass sich vielleicht einer verliebt?"
Ich sagte nichts.
Und sie auch nicht.Als es langsam spät wurde, machten wir uns auf den Weg, und kamen an dem Magnolienstrauch vorbei, der schon seit Jahren an derselben Ecke blühte. Wie schon so oft pflückte ich eine Magnolie, drehte sie zwischen Zeigefinger und Daumen hin und her und gab sie dann Amanah. Sie lächelte. Ein trauriges, aber ein echtes Lächeln, und steckte sich die Blume in ihr lockiges Haar. Ich begleitete sie bis zu sich nach Hause, aber sie klingelte nicht. Sie blieb stehen und schaute mich an. "Ich glaube, wir sehen uns nicht mehr oft."
Mein Herz tat weh, und ich wusste nicht warum. Ich wusste, dass das, was sie sagte, stimmte. Weil ich es selber gemerkt hatte. Aber das hier gerade tat weh.
"Versprich mir, dass du niemals für jemand anderen Magnolien pflückst."
Ich schüttelte meinen Kopf.
"Wieso-"
"Bilalo, versprich es mir."
"Niemals."
"Und versprich mir, dass du keine neue beste Freundin findest.""Amanah, was redest du? Ich brauche keine neue beste Freundin und außerdem bist du nur meine beste Freundin, weil du Amanah bist. Ich kann gar keine neue beste Freundin finden." Ich merkte, dass ich wütend wurde. Wütend, weil ich realisierte, was gerade passierte und weil es vielleicht stimmte. Vielleicht stimmte es, dass wir älter wurden und es deswegen anders wurde. Dass ich plötzlich größer als Amanah war. Und ich merkte, wie sehr ich ihr Lächeln mochte. Und wie sehr ich es mochte, wenn sie mich anschaute, wenn sie mir von ihrer neuen Schule erzählte. Ich mochte es, wenn sie die Blumen, die ich ihr schenkte in den Haaren trug, und wenn sie mich beim Witze-Machen mit ihrem Ellebogen anrempelte. Erst jetzt merkte ich, dass ihr eine Träne über die Wange lief und jetzt tat mein Herz noch viel mehr weh als zuvor.
"Amanah-"
"Versprich mir, dass wenn wir älter sind, wieder beste Freunde werden."
"Wir sind für immer beste Freunde." Sie lächelte ein Lächeln, was meine ganze Brust zusammenzog, wischte sich mit ihrem Handrücken die Tränen weg und betätigte die Klingel. Als das Surren ertönte, stieß sie die Türe auf und ohne zurückzublicken verschwand sie dahinter.Die Tür fiel ins Schloss und meine Wut, meine Verzweiflung, schien in dem Moment Überhand zu gewinnen. Ich stapfte den Weg zu mir nach Hause zurück und merkte, wie eine Träne nach der anderen meine Wangen runterfloss. Und zu allem Überfluss trübte sich der Himmel, nur um Sekunden später ein Sommergewitter über mir zu ergießen. Ich nahm mein Tempo auf und rannte die wenigen Meter zu mir nach Hause. Verheult und pitschnass stand ich auf unserer Türmatte und mein Vater nahm mich in den Arm. Ohne eine Frage zu stellen und ohne ein Wort zu sagen. Ich wusste, dass er verstand, was los war.
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we back
feedback plis :)
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wär sie nicht da gewesen
RomanceViel zu früh musste der 24 jährige Bilal erwachsen werden. Viel zu früh musste er die Rolle seines verstorbenen Vaters einnehmen und dafür sorgen, dass seine Familie nicht den Abgrund traf. Wie viel Leid er dafür einstecken musste, war ihm gleichg...