Bilals POV
Meine Fäuste penetrierten unerbittlich den dunklen Boxsack vor mir, der in der Mitte bereits mit Panzertape zusammengeklebt war, damit er nicht zerriss. Nach einem langen Tag in der Uni tat mir nichts besser, als beim Boxen meinen Kopf freizukriegen. Schweiß lief meine Schläfe runter und meine Lunge brannte, aber dies brachte mich nur dazu, noch einen Gang draufzulegen. Ich wollte all den Stress, der mich umgab, für einen Moment vergessen und verwandelte meine Frustration in Energie. Mein Job als Hiwi würde nur noch dieses Semester anhalten und ich musste mir für den kommenden Winter dringend eine neue Arbeit suchen. Im besten Falle in einem Bauunternehmen, um Erfahrung zu sammeln und meinen Lebenslauf zu ergänzen. Aber dafür musste ich erst einmal Zeit finden, um mein Portfolio zu beenden. Die schillernde Pfeife meines Trainers ertönte und markierte das Ende der Trainingseinheit.
Mit runtergekurbeltem Fenster fuhr ich die Schnellstraße entlang, der Schweiß klebrig auf meiner Haut und meine Gedanken überall, nur nicht bei mir. Ich hatte Rima versprochen, mehr Zeit mit ihr zu verbringen und bis jetzt hatte ich mein Versprechen nicht in Taten umgesetzt, was mein Gewissen plagte. Jeden Abend fragte sie mich, wann wir etwas unternehmen würden und mit jedem vergehenden Tag merkte ich, wie sehr die Vaterfigur in ihrem Leben fehlte. So sehr ich auch versuchte diese Stellung für sie zu übernehmen, ich würde niemals auch nur Ansatzweise meinen Vater ersetzen können. Der Gedanke, dass meine Schwester nie die Chance hatte, diesen unglaublichen Mann kennenzulernen, erfüllte mich mit einer Frust, die ich nicht in Worte fassen konnte. Denn egal, wie alt sie sein würde, ein Teil in ihrem Leben würde ihr immer fehlen. Und ich war eine reinste Enttäuschung. Nicht in der Lage der Verantwortung gerecht zu werden, die auf mir lastete.
Zuhause angekommen duschte ich, und gesellte mich dann zu meiner Schwester, die am Esstisch ihre Hausaufgaben machte. "Salamu aleikum, Habibti." Rimas Blick schellte zu mir und wenig später sprang sie freudig in meine Arme. Ihre kleinen Hände umklammerten mein Tshirt und sie nuschelte etwas vor sich hin, was ich nicht verstand. "A3la, Albi. Ich verstehe nichts" Mit meiner linken Hand hielt ich sie fest an mir, und mit der rechten strich ich ihr vorsichtig die krausen Locken aus der Stirn. "ِGuck mich an" Sie schaute mich an, ihre Augen groß und betrübt. "Wieso bist du schon so früh da?" Ich drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, bevor ich sie wieder absetzte, und mich auf einem Stuhl niederließ. "Weil wir noch in den Tierpark wollten." Jetzt strahlte sie mich an und ohne eine Sekunde zu warten begann sie ihre Hefte zusammenzupacken. "La', 3iddi! Setzt dich hin, erst die Hausaufgaben." "Aber Bilal-" Sie zog einen Schmollmund, aber der zog nicht, denn wenn ich etwas mit meinem Vater gemeinsam hatte, dann war es der Stellenwert, den wir auf Bildung legten. "Yallah! Guck mal, das kannst du doch mit links. Du bist schlau, genauso wie Aabo." Jetzt galt ihre Aufmerksamkeit wieder mir. Rima hörte immer voller Neugierde zu, wenn ich von Aabo erzählte. Für sie war unser Vater nichts weiter als eine mystische Person aus meinen Erzählungen. Ein unbekannter Held, zu dem sie aufblicke, auch wenn sie ihn nicht kannte. Ich versuchte ihr viel von ihm zu erzählen. Denn auch wenn sein Leben kurz war, war der Einfluss, den er auf mich hatte enorm, und prägte jede Handlung meiner Existenz. Manchmal zeigte ich ihr Bilder und Videos, aber wenn ich merkte, dass sie traurig wurde, schloss ich das Thema. In dem Falle aber, schien es gewirkt zu haben. Voller Konzentration saß mein ganzer Stolz neben mir, und löste ihre Aufgaben.
Meine Mutter schlief, während wir das Haus verließen und als wir wiederkommen, lag sie noch immer ausgelaugt auf der Couch. Ich hatte Essen von draußen mitgebracht, da ich nicht wollte, dass sie nach ihrer Frühschicht heut morgen noch kochen musste. Rima rannte in ihre Arme und wenig später stieß auch ich dazu, um meine Mutter zu begrüßen. Jedes Mal, wenn ich die Erschöpfung in ihren Gesicht sah, und die Falten, die ihre Haut zierten, holte mich das Gefühl von Sorge ein. Und dies motivierte mich nur noch mehr, endlich mein Studium abzuschließen, um für meine Familie sorgen zu können. Ich wollte nicht, dass meine Mutter uns über dem Wasser hielt, indem sie für fremde Menschen putzte und dabei ihren eigenen Körper zerstörte. "Wir haben Falafel mitgebracht." Ein schwaches Lächeln umspielte die Lippen meiner Mutter und sie setzte sich unter Schmerz erfüllten Seufzern aufrecht hin. "Aabo wäre so stolz auf euch." Sie nahm Rima auf den Schoß und wir aßen um den Couchtisch herum, bis wir alle satt und müde vom heutigen Tag waren.
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wär sie nicht da gewesen
RomanceViel zu früh musste der 24 jährige Bilal erwachsen werden. Viel zu früh musste er die Rolle seines verstorbenen Vaters einnehmen und dafür sorgen, dass seine Familie nicht den Abgrund traf. Wie viel Leid er dafür einstecken musste, war ihm gleichg...