kapitel 1

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eine Woche zuvor

Mit meiner Bandage wischte ich mir den Schweiß von der Stirn und joggte die wenigen Stufen zur Umkleide hinauf. Die meisten waren bereits unter der Dusche, aber das tat ich mir nicht an. Ich bevorzugte meine Privatsphäre. Also schmiss ich lediglich meine Boxhandschuhe in meinen Rucksack, schlüpfte aus meinen Trainingsschuhen in meine Sneaker und trank einen guten halben Liter, um das trockene Gefühl in meiner Kehle loszuwerden.
"Ich bin weg, Jungs." Mit meiner Tasche geschultert, begab ich mich zu meinem Auto. Ein blauer Peugot 205 GTI. Ich zweifelte stark daran, dass er noch ein weiteres Mal durch den TÜV kommen würde, aber das waren Kopfschmerzen für einen anderen Tag. Es hatte sich Hitze im Inneren angestaut und ich kurbelte das Fenster hinunter, um die kühle Abendbrise hineinzubekommen.
Die ersten warmen Tage hatten begonnen und ich wusste nicht, ob mich dies freuen sollte. Im Sommer war das Training immer doppelt so anstrengend, aber auf der anderen Seite mochte ich ein nervenzerreißendes Training. Eins, bei dem man all seine Sorgen, all seinen Stress vergaß, weil der stechende Schmerz von Beanspruchung des Körpers im Vordergrund stand.

Zu gerne würde ich unverzüglich nach Hause fahren, mich abduschen und in mein Bett schmeißen, aber ich musste meine Mutter abholen. Wir hatten nur ein Auto in der Familie. Meins. Und dementsprechend hoch war auch meine Verantwortung. Meine Mutter nahm oft Bus und Bahn, aber der Gedanke, sie zu dieser Uhrzeit eine halbe Stunde lang Bus fahren zu lassen, obwohl ich ein Auto hatte, war lächerlich. Also navigierte ich die Adresse ein, bei der ich als Kind unzählige Male war. Saloua und meine Mutter waren beste Freundinnen, seitdem ich denken konnte. Und bis heute hielt diese Freundschaft stand. Mit dem Job meiner Mutter wurde es jedoch immer schwieriger, Zeiten zu finden, in denen sie sich privat treffen konnten. Die Arbeitspläne von Putzkräften waren lächerlich und wenn meine Mutter doch mal einige Tage frei hatte, wurde sie von starken Knie und Rückenschmerzen geplagt. Es tat weh, den Menschen, den man am meisten liebte, so leiden zu sehen. Aber es lag nicht in meiner Hand. Ich tat bereits alles in meiner Macht stehende.

Vor der Wohnung angekommen, zückte ich mein Handy und klingelte einige Male meine Mutter an, um ihr Bescheid zu geben, dass sie runterkommen könnte. Der Ort war nur noch schwach in meiner Erinnerung, aber einige Dinge kamen mir bekannt vor. Es brachte eine seltsame Nostalgie mit sich, so viele Jahre später wieder hier zu sein.

"Hallo?"
"Salam Mama, ich steh unten vor der Tür, du kannst kommen."
"Gib uns noch 10 Minuten, okay? Ich wusste nicht, dass du jetzt schon da sein wirst."
Ich hörte eine gedämpfte Stimme im Hintergrund, und dann
"Saloua sagt, du sollst hochkommen. Warte nicht draußen in der Dunkelheit."
Ich zögerte einige Sekunden, bevor ich antwortete.
"Ich kann hier warten. Alles gut. Komm einfach runter, wenn du fertig bist."
"Sei nicht respektlos Bilal. Du wurdest eingeladen. Komm hoch, sie wird sich freuen."
Seufzend schnallte ich mich ab und verließ das Auto. Ich war verschwitzt und wollte gar nicht wissen, wie ich nach einem 2 stündigen Training roch. Aber ich gehorchte meiner Mutter. Das war das mindeste, was ich für sie tun konnte.

"Wow du wirst bei jedem Treffen noch ein Stückchen größer."
Die beste Freundin meiner Mutter begutachtete mich von oben bis unten und schüttelte unglaubwürdig den Kopf. "Ihr seid richtig erwachsen geworden. Du und Amanah."
Ich presste meine Lippen zu einem erzwungenen Lächeln und schlüpfte aus meinen Turnschuhen. Ich hatte die Wohnung um einiges größer in Erinnerung. Nicht, dass sie klein war. Sie war modern und geräumig. Eindeutig ausreichend für die Anzahl an Personen, die hier lebte. Aber es war bereits Jahre her, dass ich das letzte Mal einen Fuß in diese Wohnung setzte. Und damals wirkte die ganze Welt noch größer. Heute hingegen fühlte sich alles nur noch erdrückend und beengend an.

Ich folgte Saloua in die Küche, wo meine Mutter grinsend am Esstisch saß. Vor ihr definitiv zu viele Snacks für zwei Personen. Aber so war das in arabischen Haushalten. "Salam"
In schnellen Schritten trat ich zu meiner Mutter und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
"Kiefik?"
"Gut, gut, alhamdulillah. Setz dich zu uns" Zögernd ergriff ich einen der mit Kunstleder überzogenen Stühle und ließ mich auf diesem nieder.
"Magst du etwas trinken? Tee?" Noch bevor ich zu einer Antwort ansetzen konnte, erfüllte Salouas laute Stimme bereits den Raum. "Amanah habibti. Zieh dein Kopftuch an und komm her!" Ein leises Brummen ertönte aus einem der anderen Räume und ich realisierte, dass mein Puls sich verschnellert hatte.
Was zum-?
Nein.
Es war einfach unerwartet, Amanah nach all den Jahren wiederzusehen.
Wir sind quasi gemeinsam aufgewachsen. Und nach unserer Kindheit war man sich kaum mehr begegnet. Ab und zu flüchtig über den Weg gelaufen. Mal hier, mal dort gesehen.
Aber interagiert haben wir seit Jahren nicht mehr. Geschweige denn im selben Raum gesessen. Es war plötzlich. Ohne Ankündigung.
Nicht mehr, und nicht weniger.

Die Tür, durch die ich eben noch getreten war, ging schwungvoll auf.
"Wieso soll ich mein Kopftuch anziehen? Wer ist-" Der Satz blieb ihr in der Kehle stecken, als ihr Blick auf mich fiel. Einige Sekunden zu lange betrachtete sie mich, räusperte sich und schaute dann abwechselnd meine und ihre Mutter an. "Bilal?" Erneut brachte ich lediglich ein unechtes Lächeln über zusammengepresste Lippen zustande, während sie begann, mich ein weiteres Mal zu begutachten. Eine drückende Stille breitete sich in der Küche aus, mein Herzschlag dröhnend in meinen Ohren. 

wär sie nicht da gewesenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt