Amelia stand vor dem Internat. Sie hatte noch eine halbe Stunde Zeit bevor sie wieder im Schloss sein musste. Das also war ihr erster Schultag. Was hatte sie gelernt? Sie hatte ein Gedicht geschrieben. Es hatte gut getan die Wörter auf Papier zu bringen. Es schien als würde sie damit ihre Gedanken befreien und die Last in ihrem Herzen dadurch etwas leichter werden. Sie hatte Karen wieder gesehen. Sie war ihr so nah, hatte in diese faszinierenden Augen geblickt und ein lebenswertes Lächeln geschenkt bekommen. Als sie daran zurück dachte, spürte sie die Unruhe. Alles in ihr kribbelte, schrie der ersten Berührung heiß entgegen. Und sie hatte Tara. Eine Lehrerin, die vielleicht eine Freundin sein könnte und doch fühlte sie sich unendlich einsam. Sie war nicht fähig hineinzugehen. Sie würde keine Luft bekommen. Ihr fiel ein, dass Tara ihr Fahrrad heute Mittag in ihr Auto geladen hatte. Sie sah sich um und stellte erleichtert fest, dass es gegen den Schuppen gelehnt war. Ein Zettel hatte sich in den Korb verirrt.
„Fahr wohin Du willst,
aber denk daran,
es wird immer Menschen geben,
die Deiner Rückkehr freudig entgegensehen.
T."
Ein Lächeln umspielte Amys Lippen. Schön wäre es, dachte sie. Oft hatte sie das Gefühl, einfach verschwinden zu können ohne dass Jemand es bemerken würde. Wer könnte sie schon vermissen? Sie verscheuchte diese Gedanken die ihr Herz traurig werden ließen und fuhr mal wieder davon. Sie kam an dem Ort vorbei und hielt kurz dahinter an einem wackligen Zaun an. Als sie heute die große Tür öffnete und die Kirche betrat, legte sich keine Beklommenheit über sie. Es schien eher, als würde sie in eine vertraute Umgebung eintauchen. Sie ging den Gang entlang und setzte sich gegenüber von Jesus auf eine Gebetsbank. Wieder brannten Kerzen, doch es war düster, da die Wolken jegliches Licht der Sonne verschluckten. Was sollte sie jetzt tun? Mit Gott reden?
„Schön Dich wiederzusehen Amelia."
Lächelnd kam Pfarrer Thiessen auf sie zu. Er war durch eine Seitentür in den Gebetsraum gelangt ohne dass Amelia es bemerkt hatte.
„Hallo Pfarrer Thiessen."
„Sag bitte Ralf zu mir. Pfarrer Thiessen hört sich so streng und formal an."
„Das habe ich heute schon einmal gehört" erwiderte Amy lächelnd.
„Was führt Dich hierher?"
„Ich weiß es nicht."
„Nun, ich denke schon dass Du es weißt. Ich verstehe wie schwer es für Dich sein muss in dieser neuen Umgebung, wenn man fort ist von den Menschen denen man vertraut."
„Ich habe Niemanden dem ich vertraue. Ich traue nicht mal mir selbst."
Amy blickte den Pfarrer an der sie so verständnisvoll ansah. Er saß da und wartete. Drängte sie nicht, ließ sie einfach in seiner Nähe sein und stellte sich für ihre Probleme zur Verfügung.
„Es ist die Einsamkeit die mich so belastet, die Angst, nichts ändern zu können. Die ganzen schreienden Gefühle in mir die mich verunsichern. Ich hatte gehofft mit dem Wechsel auf das Internat würde es besser werden, doch es ist eher schlimmer. Den ganzen Tag werde ich daran erinnert welches Leben ich führen soll, das Leben welches ich mir nicht ausgesucht habe. Ein Leben, in das ich nicht passe. Ich kann nicht ich sein, naja, ich weiß nicht wer ich bin, aber ich fühle es. Ich habe das Gefühl, hier auf dieser Welt ist kein Platz für mich, dass ich nirgends hingehöre. Ich denke darüber nach, was meine Aufgabe ist, wozu wir sind, was es bedeutet zu leben. Warum all das geschieht."
Ist es die Einsamkeit die sie so belastet? Sie war doch gern allein oder nicht? Nein, es war eher die Angst dass Niemand sie verstehen würde. Amy konnte sich nicht vorstellen, dass andere Leute ähnlich dachten wie sie, vielleicht sogar fühlten. In ihren Kreisen spielten Gefühle keine Rolle. Fühlte sie sich deshalb nicht zugehörig? Weil sie ihre Gefühle nicht unterdrücken konnte?
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Der Weg ins Leben
Teen FictionAls junges Mädchen seinen Weg im Leben zu finden ist nicht einfach, es braucht Menschen, die einem zur Seite stehen und begleiten. Am meisten jedoch hat oft die erste Liebe den größten Einfluss...