17. Kapitel

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Die ersten Tage auf dem Internat vergingen wie im Flug. Amy stürzte sich auf den Unterricht und fing bereits mit dem lernen für die Abiturprüfungen an. Frau Ecker hatte für den Deutschunterricht eine Ersatzlehrerin eingestellt die sie auf die kommenden Aufgaben vorbereiten sollte. Amy machte sich nichts aus ihr, ebenso wenig wie aus ihren Mitschülerinnen. In sechs Monaten wäre sie fort und würde die Welt erkunden. Sie blickte aus dem Fenster, sah Karens Wagen die Einfahrt hinauf fahren. Sofort schlug ihr Herz schneller, begannen die Schmetterlinge in ihrem Bauch aufgeregt zu fliegen. War sie hier, um sie zu sehen? Seit 5 Tagen waren sie nun schon getrennt und trotz Amys Konzentration auf den Lernstoff, wollte die Sehnsucht nie von ihrer Seite weichen, war Karen immer in ihren Gedanken. Der Wagen verschwand aus ihrem Blickfeld und Amy wendete sich wieder ihrem Buch zu, kehrte zurück in die Gegenwart. Die Stunde verging nicht, der Sekundenzeiger der Uhr über der Tür tickte laut in ihrem Kopf, beinahe wäre sie aufgesprungen und aus dem Klassenzimmer gerannt, weil sie meinte, keine Luft mehr zu bekommen, sie es nicht erwarten konnte, bei Karen zu sein. Endlich wurde sie durch die Klingel erlöst. Die Mädchen um sie herum sprangen auf und traten in die Freiheit. Amy blieb sitzen, versuchte ihren Puls unter Kontrolle zu bringen und wartete, bis sie allein war. Sie verstaute ihre Sachen und begab sich auf den Weg zur Tür als sie mit der Sekretärin von Frau Ecker zusammenstieß.

„Amy, schön dass ich Dich hier noch antreffe. Du sollst bitte zu Frau Ecker ins Büro kommen."

Erstaunt sah Amy die ältere Dame an, mit der sie noch nie ein Wort gewechselt hatte. „Ich weiß auch nichts Genaues" erwiderte sie auf Amys unausgesprochene Frage, drehte sich um und ging wohl davon aus, dass Amy ihr folgen würde, was diese auch tat. Hatte sie wieder etwas angestellt? Sollte sie wieder in diesem Kasten eingesperrt werden? Das Wiedersehen mit Karen rückte in weite Ferne. Sie kamen im Vorzimmer an. Die Sekretärin nahm an ihrem Computer Platz und bedeutete ihr mit einem Nicken in das Büro der Direktorin einzutreten. Amy stand vor der großen, dunklen Tür, spürte ihr Herz wild hämmern. Sie stand kurz davor in Tränen auszubrechen, wollte nur zu Karen und wieder in die Freiheit der letzten Tage zurückkehren, als nichts sie bedrückte, sie sogar die Trauer um Franz in Frieden ließ. Nun schien wieder das Gewicht etlicher Tonnen sie in die Dunkelheit zu ziehen. Langsam drückte sie die goldene Klinke herab, die Tür öffnete sich geräuschlos und gab den Blick auf den Schreibtisch von Frau Ecker frei der verlassen im Raum stand. Ihr Blick schweifte zu der gemütlichen Sitzgruppe in der Frau Ecker ihre Gäste empfing und beinahe wäre Amy rückwärts wieder ins Vorzimmer gestolpert. Doch die Klinke an die sie sich klammerte gab ihr Halt. Frau Ecker entdeckte sie, stand auf und kam lächelnd auf sie zu.

„Amy, komm, setz Dich zu uns. Frau Strahl und ich möchten etwas mit Dir besprechen."

Mit zitternden Knien trat sie ins Büro. Frau Ecker schloss die Tür, legte Amy ihre knochige Hand auf den Rücken und schob sie sanft auf die Sitzgruppe zu, wo Karen auf sie warte und sie freundlich anlächelte. Sie empfand die Hand der Direktorin als stützende Hilfe. Karen stand auf und reichte ihr die Hand.

„Hallo Amelia. Schön Dich kennen zu lernen. Ich bin Karen Strahl."

Sie strahlte Amy an und Amy konnte nur fassungslos aus großen Augen starren. Sie war sprachlos. Was machte Karen hier? Verwirrt ließ sie die vertraute Hand los und ließ sich kraftlos in den bequemen Sessel sinken. Karen grinste immer noch als sie sich neben sie setzte. Fand sie das ganze etwa lustig? Am liebsten hätte sie Karen aus diesem Büro gezerrt und angebrüllt. Nein, wenn sie ehrlich war, wollte sie Karen einfach nur küssen und in ihren Armen versinken. Sie sah so gut aus, so glücklich. „Möchtest Du Wasser?"

Frau Ecker riss sie aus ihren Gedanken.

„Nein danke. Was kann ich denn für Sie tun, Frau Ecker?"

Sie hatte Karen den Rücken zugewandt und konzentrierte sich nun ganz auf Frau Ecker.

„Nun Amy, ich denke mal, Du kennst Karen Strahl. Von ihr hängt ein Bild bei uns im Kunstraum."

Amy nickte geistesabwesend. Was hatte das Ganze mit ihr zu tun?

„Und wie Du weißt, ist einer meiner größten Wünsche, dass Frau Strahl bei uns als Kunstlehrerin anfängt."

Oh Gott! Wie kompliziert sollte das noch alles werden? Das war doch nicht Karens Ernst hier als Lehrerin anzufangen? Die Dunkelheit in ihr schien grenzenlos.

„Aber leider geht auch heute mein Wunsch nicht in Erfüllung" fuhr Frau Ecker fort. Hatten die beiden ihr erleichtertes Aufatmen gehört? Sie bekam wieder Luft.

„Aber was...?"

Frau Ecker lächelte.

„Frau Strahl hat sich an mich gewandt, weil sie eine Praktikantin sucht, die ihr behilflich ist, ihre neue Ausstellung vorzubereiten."

Fragend schaute Amy Karen an, doch die zwinkerte ihr nur lächelnd zu und sagte kein einziges Wort.

„Und da habe ich an Dich gedacht Amy!"

„Aha" sagte Amy verwundert zu ihrer Direktorin und wusste nicht genau, wie sie das ganze einordnen sollte.

„Ich weiß Du bist mit den Vorbereitungen für die Prüfungen beschäftigt, aber Deine Noten sind doch mittlerweile ganz akzeptabel und ich dachte, es könnte Dir gefallen Zeit mit einer Künstlerin zu verbringen?"

Frau Ecker blickte sie auffordernd an.

„Äh ja", stammelte Amy.

„Na wunderbar!" Frau Ecker klatschte begeistert in die Hände.

„Die Details könnt ihr beide ja in Ruhe besprechen."

Die Klingel läutete die nächste Unterrichtsstunde ein. Amy erhob sich.

„Tja, ich muss dann mal wieder." Sie lächelte Frau Ecker an, die ihr aufmunternd zulächelte. Sie wandte sich Karen zu die ihr wieder einmal die Hand hinhielt.

„Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit", sagte sie und streichelte dabei unbemerkt von Frau Eckers Blicken zärtlich über Amys Handrücken. Was macht diese Frau nur mit mir? Sie lächelte und verließ immer noch wackligen Schrittes das Büro. Das Vorzimmer war leer und Amy atmete tief durch, bevor sie sich auf den Weg in ihr Klassenzimmer machte. 

Der Weg ins LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt