⠀ ⠀ ⠀ XX. time passes until the past arrives

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DIE ANMUTIGEN BEWEGUNGEN DER Tänzerin waren so sanft wie das leise Plätschern eines Baches, der leise und unerkannt in einem sonnendurchfluteten Wald floss und, mit offenem Herzen standen sie im Kontrast zu dem Musikstück, welches das Orchester mit harten Bewegungen und Tönen durch den Opernsaal hallen ließ.

Es war schwer auch nur für wenige Sekunden den Blick von der Ballerina abzuwenden, die vollkommen in Weiß gehüllt war, um ebenfalls die anderen Tänzer in ihren schwarzen Gewändern und abrupten Bewegungen, die auch wirklich zu dem Stück passten, zu betrachten.

Ivor war gefangen; vollkommen hatte sie ihn in ihrem tragischen Bann und vollkommen wollte er sich ihr ergeben, wollte die Töne, die seine Ohren segneten, für immer in seinem Kopf einschließen, da er wusste, dass ihre Bewegungen vor seinem geistigen Auge folgen würden. Er würde selbst seinen Verstand dafür geben.

Balet kolyuchikh slez — das Ballett der stacheligen Tränen. Seit einem Monat füllten die zahlreichen Künstler Abend für Abend die Bühne, und seit einem Monat hatte Ivor keine einzige Vorstellung verpasst. Er kam stets allein, nur um ihren Tanz zu bewundern, verloren in einer stillen, beinahe besessenen Verehrung.

So vollkommen und bedingungslos in dem Bann der Ballerina gefangen, hatte er nicht einmal gemerkt, wie sich jemand zu ihm in die leere Lounge setzte, die Ivor sich für die ganze Session gebucht hatte, und erst recht bemerkte er nicht, wer es war, der sich zu ihm gesellt hatte und mit der düsteren Hand des Schicksales ihm all seine Ruhe nehmen wollte.

Jedoch war der Zustand der glückseligen Ahnungslosigkeit nicht von Dauer und das Ende lauerte bereits über ihm. Nun, es war schon ein Segen, dass die Ruhe so lange angehalten hatte. Die Anwesenheit des Mannes ersetzte langsam genau das, was Ivor davor ausgemacht hatte. Es nahm seine Atome auseinander und ersetzte sie mit der Dunkelheit. Er nahm Ivor Gedanken in seine Hände und schloss sie, bis sie zwischen seinen Fingern davon glitten und von dem Wind weggetragen wurden wie Sand. Alles, was er bewunderte und liebte, wurde ihm genommen und durch ihn ersetzt.

Es war noch keine Angst, die erwachte, so überfordert war Ivor mit der bloßen Präsenz, doch er wusste, dass er sich fürchten musste. Die Bühne schien zu verdunkeln, die weiße Tänzerin wurde immer blasser und nahm ihm so den letzten Funken seines Lebens in Ruhe. Ivor musste flüchten, stellte er fest.

Gerade als er sich von dem Samtstuhl erheben wollte, sein lauter Herzschlag und das rasante Atmen nun das einzige Orchester in seinen Ohren, schienen sich Seile um seinen Körper zu wickeln. Wie angewurzelt blieb er sitzen und starrte geradeaus, während der Mann leise neben ihm missbilligend mit der Zunge schnalzte.

»Es ist unhöflich zu verschwinden, ohne jedenfalls Hallo gesagt zu haben...«, säuselte seine Stimme, so tief und durchdringend, dass selbst Ivors Herzschlag leiser wurde, um ihm zu lauschen. Es brauchte einen Moment bis Ivor bemerkte; es erweckte ein unwohles Gefühl in Ivor, den Mann, der seinem Land und seiner Kultur so fern war, so perfekt in seiner Muttersprache reden zu hören.

So wären seine Glieder nicht vor Angst erstarrt, hätte er vielleicht sein Gesicht verzogen.

»Wie hast du mich gefunden?«, fragte Ivor leise, um das Ballett nicht zu unterbrechen, obwohl niemand in der Oper ihn hören konnte. Niemand bemerkte etwas, sie alle saßen nur weiter auf ihren Plätzen und bewunderten das Meisterwerk, ohne zu wissen, dass nun der Tod unter ihnen weilte.

»Hast du überhaupt versucht, es mir schwer zu machen? Es hat mich beinahe gelangweilt.«

Das Schönste, was die Welt besaß, war ebenfalls das Grausamste. Die Sterblichkeit. Der Tod. Und gierig wie der Mensch war, drehte Ivor seinen Kopf herum, als wäre er nichts mehr der wahre Herr seines Körpers, sondern nur noch ein weiterer Zuschauer der Oper seines Lebens.

devotion till violence.     professor riddleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt