1- Früher

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ERSTER TEIL
STERNENLICHT

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1- Früher

Der kleine graue Welpe tapste in die Höhle der Ältesten. „Erzählt ihr mir eine Geschichte? Mir ist langweilig", jammerte er. „Was ist das denn für eine Begrüßung?", beschwerte sich der große Rüde, der zusammengerollt in seinem Nest lag. „Gar keine", ergänzte die zierliche Älteste, die neben ihm lag. „Entschuldigt", seufzte der kleine Welpe und senkte den Kopf. „Aber mir ist so langweilig! Keiner spielt mit mir und ich darf das Lager noch nicht verlassen." „Und deswegen meinst du, du kannst ein paar alte Wölfe um ein wohlverdientes Schläfchen bringen?", grummelte die Wölfin.

„Wenn ihr nicht wollt, dann kann ich auch wieder gehen", meinte der Welpe. Er versuchte nicht traurig zu klingen, ließ aber die Route enttäuscht hängen. „Na na, wer wird denn gleich heulen", meinte der Wolf versöhnlich. Er richtete sich auf. „Komm her und setz dich, natürlich erzählen wir dir eine Geschichte." Der Welpe hob den Kopf und zuckte mit den Ohren. Dann sauste er schnell in das Nest des Ältesten. Es war mit Moos und weichen Blättern gepolstert. „Welche Geschichte möchtest du denn hören?", fragte der Älteste.

„Die Geschichte von früher!", antwortete der Welpe und seine Augen leuchteten. Die Älteste schnaubte belustigt. Sie wusste nicht mehr, wie oft sie die Geschichte schon erzählt hatte. Also streckte sie die Vorderpfoten aus und machte es sich bequem. Dann begann sie zu erzählen.

„Vor vielen, vielen Monden, so viele, dass niemand mehr weiß, wie viele es waren, lebten in dieser Gegend einst fünf Rudel von Wölfen. Meistens leben Rudel für sich, aber wenn es in einer Gegend viel Beute gibt, dann lassen sich auch mehrere Rudel nieder. So wie hier. Eines in den dunkeln Wäldern, die wir Düsterwald nennen, das Rudel der Dunkelheit genannt, eines in den lichteren Laubwäldern, das Rudel des Lichts, eines auf der großen Ebene, das Rudel des Winds, eines am Fluss, das Rudel des Wassers und eines in den Bergen, das Rudel der Steine. Es gab Beute im Überfluss und jedes Rudel hatte seine eigene Art zu jagen. Auf der Große Ebene musste man schnell wie der Wind sein oder die Wölfe in den Bergen mussten lange warten und durften sich nicht bewegen, bis die Beute aus ihrer Höhle kam.

So war jedes Rudel verschieden, aber eines hatten alle gemeinsam: den Glauben an das Rudel der Sterne. Jeden Vollmond trafen sich alle Wölfe aus allen Rudeln am Sternensee, um sich auszutauschen über Neuigkeiten, Beute und so weiter. Die Anführer tranken von dem Wasser und oft träumten sie in der Nacht danach. Es war oft unverständlich, was sie geträumt hatten, aber es waren immer Prophezeiungen oder Nachrichten vom Rudel der Sterne. Mit der Zeit wurden es in jedem Rudel immer mehr Wölfe. Auch wenn es viel Beute gab, reichte sie bald nicht mehr aus. Kämpfe um Reviere und Beute brachen aus und es verging kein Tag, an dem nicht gekämpft wurde. Das Rudel der Sterne schickte einen Waldbrand.

Wie durch ein Wunder überlebten fast alle Wölfe, doch die Beute war verschwunden. Das machte alles nur noch schlimmer. Die Wölfe kämpften um jede noch so kleine Maus und geheime Bündnisse wurden geschlossen. Dann kam jemand auf die Idee, in die Berge zu gehen. Fast alle Wölfe folgten ihm. Das Rudel der Berge bot den Wölfen an, fortan die Beute mit ihnen zu teilen. Doch schon nach wenigen Sonnenaufgängen wurde das Rudel der Berge vertrieben, aber ohne die Wölfe, die das Jagen in den Bergen kannten, verbesserte sich die Situation nicht. Die Wölfe fanden fast keine Beute mehr und ein Steinschlag sperrte sie in einer Höhle ein, aus der sie nie wieder herauskamen."

„Was passierte mit den Wölfen, die im Wald zurückgeblieben waren?", fragte der kleine Welpe. Zwar hatte er die Geschichte schon einmal gehört, aber für ihn war der nächste Teil der Geschichte der schönste.

"Zum Vollmond versammelten sie sich wieder am See, weil sie hofften, dass das Rudel der Sterne zu ihnen sprechen würde. Sie schickten dem Anführer Cimon ein Zeichen, dass die Beute zurückkommen würde. Es dauerte eine Weile, bis sich das Rudel organisiert hatte. Cimon wurde der Anführer und da die Wölfe aus allen Rudeln kamen, konnten sie fast das gesamte Gebiet als ihr Territorium beanspruchen. Im nächsten Frühling erholte sich der Wald und nach einem strengen und beutearmen Winter, den nicht alle Wölfe überlebten, grünte es wieder und die Beute kam zurück. Das Rudel war immer noch groß, aber die Große Ebene und der Wald nährten es. Die Wölfe erlernten Kampftechniken und Jagdmethoden."

„Bald werde ich das auch lernen dürfen", meinte der kleine Welpe andächtig. „Ja, das wirst du", stimme ihm die Älteste zu und stupste ihm mit der Schnauze liebevoll ins Fell. Dann erzählte sie weiter: „Wenn die jungen Wölfe kurz vor dem Ende ihrer Ausbildung stehen, müssen sie die Große Reise antreten. Dabei müssen sie die komplette Grenze des Reiches ablaufen und aus jeder Gegend einen Gegenstand mitbringen. Wenn sie das geschafft haben, dann werden sie als vollständiges Mitglied in das Rudel aufgenommen."

Die Augen des kleinen Welpen funkelten wie Sterne. „Ich kann es kaum erwarten, bis ich soweit bin", sagte er und hüpfte aufgeregt herum. Die beiden Ältesten schnaubten belustigt. „Das sagen die kleinen Welpen immer", meinte der Rüde, „aber wenn es dann an die harte Ausbildung geht, wollen sie wieder Welpe sein", ergänzte die Wölfin. „Die harte Ausbildung muss doch aber sein, wenn man für sein Rudel sorgen will", fragte der Welpe etwas verwirrt. „Also ich fürchte mich nicht davor, Tag und Nacht zu üben."

Stolz richtete er sich auf. „Da bist du schon deutlich weiter als andere Wölfe vor dir", antwortete der Rüde. „Du brauchst dich gar nicht aufplustern. Du wirst auch so ein ganz Großer sein!"

Im Reich der Wölfe - Halbmond (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt