6- Das Auge des Wolfes

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ZWEITER TEIL
MONDLICHT

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6- Das Auge des Wolfes

„Seid ihr bereit, die Große Reise anzutreten?", fragte Jylge mit feierlicher Stimme. Jonata, Alba und Endres bellten kurz. „Jeder von euch hat sich einen Teil der Strecke, die ihr zurücklegen müsst, gemerkt. Ihr könnt froh sein, dass ihr zu dritt seid. Andere Wölfe müssen die gleiche lange Reise alleine bestreiten. Nichtsdestotrotz könnte eure Zusammenarbeit nicht schaden. Jeder von euch hat andere Stärken, nutzt sie auf der Reise. Eure Aufgabe wird es sein, aus jeder Gegend einen Gegenstand mitzubringen, als Beweis, dass ihr auch wirklich an dieser Stelle wart. Gibt es soweit noch Fragen von euch?"

Tausende Fragen schwirrten Endres durch den Kopf, aber er konnte sie nicht alle auf einmal stellen. Stattdessen schüttelte er den Kopf. Unruhig trat er von einer Pfote auf die andere. Er wollte endlich aufbrechen, sein Fell kribbelte vor Aufregung als würden hunderte von Ameisen darin herumkrabbeln. Auch Jonata und Alba hatten keine Fragen mehr. Alba nahm den Beutel aus Elchhaut in die die Schnauze, den ihn Duretta gegeben hatte. Darin sollten sie die Gegenstände aufbewahren, damit sie nicht verloren gingen.

„Dann wünsche ich euch, dass das Rudel der Sterne über euch wacht und ihr wohlbehalten wieder hier ankommt", sprach Jylge und berührte jeden der Jungwölfe noch einmal mit der Schnauze. „Möge das Rudel der Sterne über euch wachen", murmelten die anderen Wölfe im Chor.



Endres wäre am liebsten sofort losgesprintet, als die drei Wölfe das Lager verlassen hatten. Er zwang sich, ruhig neben Jonata und Alba herzulaufen, um Kräfte zu sparen. Wer weiß, was auf sie warten würde. Statt den Weg zur Großen Ebene einzuschlagen, liefen die Wölfe in die entgegengesetzte Richtung zum Polterpfad, der die äußerste Grenze im Revier der Wölfe darstellte. Der Polterpfad war der Weg, der nicht nur das Dorf und das Kloster verband, sondern auch zur Stadt führte. Auf der anderen Seite des Pfades lag das Revier der Bären. Nach kurzer Zeit hatten die drei Wölfe die Grenze erreicht.

„Wir müssen immer dem Auge des Wolfes folgen", erklärte Jonata, die sich den ersten Teil der Strecke gemerkt hatte. „Dem Auge des Wolfes?", fragte Endres. „Das ist der Stern, der sich nie bewegt. Alle anderen umkreisen ihn, nur er steht immer an der gleichen Stelle. Deswegen kann man sich gut an ihm orientieren. Im Sternbild des Wolfes ist dieser Stern ein Auge, weil er so hell funkelt", erklärte Jonata. Endres sah nach oben. Die Sterne schienen so unglaublich fern, dass es für ihn unglaublich war, dass nur ein einzelner ihnen den Weg weisen konnte. Bei den Mönchen hatte er auch schon mal etwas über die Sterne gehört.

Es hieß, dass alle Sterne, die Sonne und der Mond, um die Erde kreisen, die im Mittelpunkt stand. Für Endres schien das alles so weit entfernt, dass er es nicht glauben konnte. Wie groß war die Erde, dass sie im Mittelpunkt von allem stand? Endres schüttelte sich. Es war zu verwirrend für ihn. „Ich schlage vor, dass wir bis zum Morgengrauen laufen und uns dann einen Unterschlupf suchen", schlug Alba vor. „Wenn uns auf der großen Ebene die Sonne auf den Kopf brennt, sei damit nicht zu spaßen."

„Nachts ist es besser für uns", stimmte ihm Jonata zu. „Da sehen wir die Sterne, an denen wir uns orientieren können." Die drei Wölfe liefen entlang des Weges weiter. In diesem Gebiet roch es stark nach den Wölfen, immerhin jagten sie hier fast täglich, wenn nicht gerade eine große Jagd auf einen Elch auf der Großen Ebene stattfand. Für Endres hatte der Geruch etwas Vertrautes an sich. Bald würden sie ihn hinter sich lassen und aufbrechen, in die Weiten der Großen Ebene, die das Rudel als sein Revier beanspruchte.

„Ob wir noch Spuren aus den alten Zeiten finden?", fragte Jonata plötzlich. „Was meinst du?", erwiderte Alba. „Du kennst doch die Geschichte der Großen Ebene. Früher, als hier die verschiedenen Rudel zusammenlebten." „Kaum zu glauben, dass jedes von ihnen hier ein eigenes Revier hatte", staunte Endres. „Bald kommen wir am Düsterwald vorbei, selbst da hat ein Rudel gelebt", meinte Jonata. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie man in diesem Wald ordentlich jagen will. Es gibt kein Unterholz, in dem man sich verstecken kann. Außerdem pieken einen doch die Nadeln ständig in die Pfoten." „Aber anscheinend hat es funktioniert", vermutete Endres. „Sonst hätte das Rudel nicht über so viele Monde bestanden."

Im Reich der Wölfe - Halbmond (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt