3- Die Ruhe nach dem Sturm
„Bist du wieder draußen gewesen?", fragte Bruder Paulus, als Endres ins Kloster zurückkehrte. „Du sagst doch selbst immer, dass frische Luft gut für den Körper ist", antwortete Endres. „Hattest du wohl Arbeit für mich?" „Ich habe selbst kaum genug Arbeit für mich", erwiderte der Mönch und setzte sich auf den Holzhocker. „Immer nur Kräuter sortieren und hier und dorthin zu packen, nur um sie dann wieder zurück an den Ursprungsplatz zu legen ist auch langweilig."
„Es hat sich viel verändert", stimmte ihm Endres zu. „Ich sollte mich freuen, dass es allen wieder gut geht, keiner gestorben ist und alle wieder ein normales Leben führen können", sprach Bruder Paulus. Endres schien, dass der Mönch eher mit sich selbst sprach. „Stattdessen komme ich mir so nutzlos vor. Es passiert kaum etwas. Jeden Tag das Gleiche."
„Vielleicht ist ein bisschen Ruhe gar nicht schlecht", überlegte Endres. „Du warst Tag und Nacht wach, um die Kranken zu versorgen. Du hast deinen Kräutergarten fast vollständig aufgebraucht, um Medizin herzustellen. Du hast nicht auf dich geachtet, aus Angst, dass genau in diesem Moment jemand deine Hilfe brauchen könnte. Eigentlich solltest du froh sein, dass du jetzt um kein Menschenleben mehr bangen musst."
„Eigentlich sollte ich das", murmelte Bruder Paulus leise. „Wollen wir zum Dorf reiten?", fragte Endres. Er hoffte, dass das den Mönch auf andere Gedanken brachte. „Vielleicht braucht dort jemand deine Hilfe."
„Wenn du meinst", stimmte Paulus zu. „Wenn du jetzt nicht gleich etwas fröhlicher wirst, lasse ich mir etwas einfallen", drohte Endres. Es nervte ihn. Seit die Überlebenden des Raubritterüberfalls wieder gesund waren und in ihr Dorf zurückkehren konnten, badete der Mönch in Selbstmitleid. Er hatte keine Aufgabe mehr und das machte ihn depressiv. Endres hatte schon vieles versucht, doch der Mönch wollte einfach nicht fröhlicher werden.
„Schon gut, schon gut", wehrte Bruder Paulus ab. Die beiden gingen zum Pferdestall. Auch das Kloster hatten die Raubritter überfallen, doch dank des Kampfgeistes der Dorfbewohner und dem Drang der Mönche, ihr Kloster zu beschützen, mussten die Raubritter ihre erste Niederlage einstecken. Kopflos waren sie davon gestürmt, als Endres das Rudel zu Hilfe geholt hatte. Ihre Pferde hatten sie dagelassen. In den darauffolgenden Tagen hatte man den toten Raubritter begraben und für ihn gebetet, dass er doch noch in den Himmel kam, auch wenn er für seine schlimmen Taten eigentlich die Hölle verdient hatte.
Es waren mehrere Dutzend Pferde gewesen, somit konnten die Dorfbewohner einige mitnehmen, damit ihnen die Tiere beim Aufbau des Dorfes halfen. Danach waren Bruder Ciman und Bruder Vallentin mit einigen Pferden in die etwa zwei Tagesreisen entfernte Stadt gezogen, um sie dort zu verkaufen. Doch statt des einzigen Pferdes, das bereits vor dem Überfall im Kloster den Mönchen gedient hatte, lebten jetzt drei weitere Tiere dort. Endres klopfte dem braunen Hengst auf den Hals.
„Du brauchst doch sicherlich auch Bewegung", meinte er und das Pferd schnaubte. Endres hätte sich vorher nie vorstellen können, auf einem Pferd durch die Gegend zu galoppieren, doch der Hengst war geduldig gewesen. Immer wieder war Endres beim Aufsteigen heruntergefallen. Das Pferd hatte immer geschnaubt. Endres meinte manchmal, dass es dem Lachen ähnlich klang, ein anderes Mal klang es wie eine Ermutigung, es nochmal zu probieren. Es hätte auch ein genervtes Schnauben sein können.
Endres war sich nicht sicher, ob das es überhaupt etwas zu bedeuten hatte. Das Knurren eines Wolfes, ein Ohrenzucken oder eine Geste mit der Route, das wusste er zu deuten. Er war schließlich jede freie Minute bei den Wölfen. Diese Zeit war mehr geworden, seit der Schrecken mit den Raubrittern ein Ende hatte. Im Gegensatz zu Bruder Paulus genoss Endres die Ruhe. Er konnte mehr Zeit bei den Wölfen verbringen und auch im Kloster gefiel es ihm immer mehr. Endres konnte sich jedoch nicht vorstellen, eines Tages selbst dem Kloster beizutreten, auch ein Mönch zu werden.
Die Mönche waren die freundlichsten Menschen, die er kannte, doch ihm schwebte eine andere Zukunft zu. Er hielt inne. Sollte er bei den Wölfen bleiben? Oder lieber ins Dorf ziehen, um irgendwann eine eigene Familie zu haben? Er schüttelte den Kopf. Darüber wollte er sich noch keine Gedanken machen. Sein Schicksal würde ihn schon leiten. „Auf geht's, mein Guter", sagte er zu dem Hengst, der gehörig lostrottete.
„Ich kann immer noch nicht verstehen, dass er bei dir so ruhig ist", meinte Bruder Auberlin. „Sonst ist er immer trotzig und störrisch. Beinah wie ein Esel." „Endres hat eben einen besonderen Draht zu Tieren", sagte Bruder Paulus, der immer noch nicht auf seinem Pferd saß. Endres zuckte mit den Schultern. „Ich warte am Tor auf dich", gab er bekannt. Am Tor angekommen blieb der Hengst stehen. Endres hat eben einen besonderen Draht zu Tieren, hatte Bruder Paulus gesagt.
Schon oft hatte sich Endres gefragt, ob der Mönch etwas davon wusste. Dass er auch ein Wolf war. Vor einiger Zeit war Gawin, ein Wolf aus dem Rudel, bei der Jagd schwer verletzt worden. Duretta, die Wölfin, die sich im Rudel am besten mit Kräutern auskannte und für jede Verletzung eigentlich ein Heilmittel kannte, wusste keinen Rat mehr. Endres hatte schließlich Bruder Paulus zum Rudel geholt.
Als Wolf war er in das Kloster gelaufen, wo er den Mönch schließlich im Kräutergarten gefunden hatte. Er hatte ihm bedeutet, ihm zu folgen. Bruder Paulus war ihm bis ins Lager des Rudels gefolgt, wo der verletzte Gawin lag. Nachdem der Mönch dem Tier geholfen hatte, ging es Gawin wieder schlagartig besser. Die Tat hatte im Lager teilweise für Unmut gesorgt, da die Wölfe die Menschen scheuten. Doch Endres hatte bewiesen, dass die Menschen nicht immer schlecht sind und Böses wollen. Als Bruder Paulus ihm dann am nächsten Morgen von dem Erlebnis erzählt hatte, tat Endres so, als könnte er sich es gar nicht vorstellen. Bruder Paulus hatte gesagt, dass der Wolf, der ihn geholt hatte, ihn sehr an Endres erinnere.
Hatte der Mönch also doch schon vor längerer Zeit Verdacht geschöpft? Endres dachte nach. Es war nichts Schlimmes, was er tat. Aber würden alle so ruhig und gelassen reagieren wie Bruder Paulus? Endres hatte schon von Taten gehört, bei denen Frauen verbrannt wurden, weil man sie der Hexerei verdächtigte. Das war es, was Endres ein Verbrechen nannte. Die Frauen hatten nichts Böses getan und doch wurden sie dafür getötet.
Endres kam nicht dazu, den Gedanken weiter zu verfolgen. Ein Pferd kam angetrabt, auf dem Bruder Paulus saß. „Wir können los", verkündete er. „Du brauchst von Mal zu Mal weniger Zeit, aufzusteigen", stichelte Endres. Der Mönch musste lachen. „Mal sehen, wer weniger Zeit braucht um zum Dorf zu gelangen", forderte er den Jungen heraus. „Abgemacht!", stimme Endres zu und schon galoppierte das Pferd los.
„Über den Preis reden wir später noch", rief er dem Mönch zu. Dann richtete Endres den Blick wieder nach vorn und konzentrierte sich auf den Weg. Bruder Paulus schüttelte lachend den Kopf. Er hatte jetzt schon verloren, das wusste er, aber der Spaß war es ihm Wert.
DU LIEST GERADE
Im Reich der Wölfe - Halbmond (Band 2)
Fantasy"Der Neumond war ein Zeichen des Neuanfangs. Aber euch steht noch etwas weitaus Schlimmeres bevor. Du musst stark sein. Du darfst nicht aufgeben. In dir muss brennen, was du in anderen entzünden willst. Nur so kommt ihr durch die schwere Zeit." Der...