19- Die alte Geschichte

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19- Die alte Geschichte

Sie liefen weiter. Jagten etwas, blieben jedoch nie länger als nötig an einer Stelle. Kaum, dass sich ihre müden Pfoten etwas erholt hatte, liefen sie weiter. Endres achtete inzwischen nicht mehr darauf, dass sein ganzer Körper danach schrie, eine Rast einzulegen. In der letzten Nacht hatte er nicht viel geschlafen, aber er konnte die anderen verstehen, dass sie so schnell liefen. Er selbst wollte die Berge so bald wie möglich hinter sich lassen und sofern es sich vermeiden ließ auch nie wieder zurückkehren.

Den ganzen Tag hindurch waren sie gelaufen, folgten immer dem Pfad in dem schier unendlichen Tal. Doch Endres bemerkte, dass die Berge ringsherum kleiner wurden. Die Spitzen verschwanden nicht mehr in den Wolken, waren nicht mehr mit Schnee bedeckt. Das Tal wurde breiter und die mit Moos bedeckten Flächen auch. Den Tieren, denen sie begegneten, schenkten sie kaum Beachtung. Ihnen fehlte die Kraft, eine der Ziegen zu jagen, deswegen beschränkten sie sich auf kleinere Tiere.

Sie brauchten nicht viele Worte, um sich zu verständigen. Endres merkte, wie ihm die sich verändernde Umgebung neue Kraft schenkte, sodass er noch schneller lief. Irgendwann, die Sonne schon wieder unterging, waren die Berge verschwunden. Nur noch kleine Hügel waren zu sehen, die Endres jedoch eher an die Große Ebene erinnerten. Die Wölfe und die Eule hielten an. „Wir haben es tatsächlich geschafft", freute sich Sonnensplitter. „Wir sind aus den Bergen raus."

„Und das sogar schneller als gedacht", stimmte ihm Jonata zu. Ihre Brust hob und senkte sich deutlich. Auch sie war froh, endlich nicht mehr die beklemmende Bergluft atmen zu müssen. „Wo wind wir?", fragte Alba. „Das wüsste ich auch gerne", antwortete Endres. In einiger Entfernung vor ihnen rauschte der Fluss, durch den Endres und Alba geschwommen waren. Er vermutete, dass der Verlauf des Wassers dafürsprach, dass sie nicht allzu viel von ihrem ursprünglichen Weg abgekommen sein mussten.

„Ich fliege mal etwas höher und sehe mich um", gab die Eule bekannt und erhob sich schon in die Lüfte. Ihr Körper wurde kleiner, bis Endres schließlich nur noch schwach einen Punkt am Himmel ausmachen konnte. Dieser war grau und mit Wolken verhangen. Es wurde Herbst, das merkte man jetzt deutlich. In den Bergen schien es keine Jahreszeiten zu geben. Wo sollten im Frühling die Blumen sprießen, die in den Gärten im Dorf nur so wucherten? Wo sollten sich im Herbst die Blätter bunt färben?

Die Berge waren immer grau und nur an manchen Stellen schwach begrünt. Dass diese Umgebung sich auch auf die Gemüter auswirkte, hatte Endres am besten an den Bergwölfen gesehen. Er merkte es schon an sich selbst. Das erdrückende Gefühl war weg. Vor ihm wurde das Land eben, Wälder und Wiesen wechselten sich ab, getrennt vom Fluss. „Fällt euch an dem Verlauf des Flusses irgendetwas auf?", fragte Endres plötzlich. Alba und Jonata sahen ihn erstaunt an.

„Was meinst du?", fragte sie. „Den Verlauf, den der Fluss hier beschreibt, erinnert er euch an etwas?", versuchte Endres, ihnen auf die Sprünge zu helfen. „Sag es uns", forderte Alba ihn auf. „Der Fluss sieht aus wie eine Schlange", erklärte Endres. „Ich habe in meinem Leben noch nicht viele Schlangen gesehen", meinte Jonata. „So ganz sicher bin ich mir da nicht, ob der Fluss wirklich so aussieht."

„Aber ich bin mir sicher", sagte Endres bestimmt. „So, wie Jylge mir den letzten Abschnitt der Reise beschrieben hat, müssen wir an einem Fluss entlanglaufen, der einer schlängelnden Schlange gleicht." „Eine schlängelnde Schlange?", wiederholte Alba. „Seht euch den Fluss doch einmal genau an. Er verläuft nicht so ungleichmäßig wie an anderen Stellen. Die Kurven, die er beschreibt, sind gleichmäßig und liegen in gleichen Abständen auseinander", versuchte Endres es zu beschreiben. „Jetzt, wo du es sagst."

Jonata legte den Kopf schief und betrachtete den Fluss genauer. „Mit anderen Worten also: wir sind immer noch auf dem richtigen Weg?" „Kann man so sagen", bestätigte Endres. „Auf unserem Weg war ein Abstecher in die Berge vorgesehen. Nur sollten wir wahrscheinlich ein anderes Tal benutzen, um wieder herauszukommen. So hätten wir uns dem Fluss von einer anderen Richtung her nähern müssen. Versteht ihr? Das Bild, das Jylge mir beschrieben hat, ist dasselbe wie das, welches wir hier sehen. Halt nur verdreht, weil wir aus einer anderen Richtung gucken."

Im Reich der Wölfe - Halbmond (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt