5- So anders

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5- So anders


Der Platz hinter der Kirche hatte sich verändert. Wo früher Hütten gestanden hatten, war jetzt eine grüne Wiese, auf der man viele Blumen gepflanzt hatte. „Hier haben wir sie begraben", meinte Hennlinn leise. Endres brauchte nicht weiter zu fragen, wer sie waren. Er wusste es auch so. Es waren die Toten, die, die den Raubrittern zum Opfer gefallen waren. Die, deren Leichen wochenlang hier herumgelegen hatten, die Wind und Wetter ausgesetzt waren, Freiwild für Tiere und Ungeziefer. Endres war nach dem Angriff noch einmal hier gewesen, zusammen mit Bruder Vallentin.

Damals hatte er es ignoriert und versucht, das Elend nicht an sich heran zu lassen. „Wie viele waren es?", fragt Endres. „Wir haben nicht gezählt", antwortete Hennlinn. „Aber es waren so viele." Die zwei Jungen und das Mädchen starrten gedankenverloren auf die Wiese. „Hier sollen sie, nach all dem Übel und Elend, das ihnen widerfahren ist, ihre letzte Ruhe finden", meinte Agnes. Endres seufzte. Ihm wurde klar, dass die Menschen, die jetzt auf der anderen Seite des Erdbodens lagen, nie zurückkehren würden. Es waren die Menschen, denen er auf den Feldern geholfen hatte, die Helena von Krankheiten geheilt hatten, die er seit seiner Geburt kannte. Er schluckte.

„Ruht in Frieden", murmelte er leise. Bruder Paulus trat zu den dreien. Auch er wirkte betroffen. „Wie viel Unheil Menschen nur anrichten können", meinte er. „Ich bete, dass wir nie wieder mit einer solchen Meute umgehen müssen. Hoffentlich haben sie sich in den hintersten Winkel der Erde verzogen."

Es herrschte Schweigen. Auf einmal wurde Hennlinn von seiner Mutter gerufen. Agnes ging auch zurück zu ihrer Familie. Sie konnten sich nicht lange aufhalten, es wurde jede helfende Hand gebraucht. „Ich habe gesagt, dass wir helfen könnten. Sie brauchen Schmiede, Tischler, Helfer", erklärte Endres. „Wenn der Winter erst einmal hereinbricht, ist alles zu spät", stimmte ihm Bruder Paulus zu. „Sobald wir zurück im Kloster sind, unterrichten wir die anderen davon. Im Kloster ist nichts los... So können wir wenigstens etwas Gutes tun."

Camilla trat zu den beiden. „Bruder Paulus? Entschuldigt die Störung. Mein Mann hat sich verletzt, er hat wahrscheinlich einen Holzsplitter im Arm", erklärte sie. „Ich komme sofort." Camilla brachte den Mönch zu dem Verletzten. Endres blieb alleine an der Wiese stehen. Er ließ den Blick noch einmal über die Blumen streifen. Vor dem Winter würden sie nicht blühen, aber im Frühjahr dafür umso mehr.

Er lief zurück zu seiner Hütte. Als er das letzte Mal hier gewesen war, hatte er noch einige Sachen retten können. Doch damals war die Hütte wackelig gewesen und von den Raubrittern zerstört. Er atmete tief durch. Was würden Helena und Lorentz dazu sagen, wenn sie das nächste Mal herkämen? Womit hatten sie die Ehre verdient, dass die Dorfbewohner ihre Hütte noch vor den eignen wiederaufbauten? Er öffnete die Tür und betrat den Raum. Kurz stockte ihm der Atem. Es sah alles so aus wie vor dem Angriff. Die Feuerstelle war noch an genau derselben Stelle. Darüber das Gestell, in dem der Topf hing.

Es war nicht der alte, rostige, verbeulte, den Endres noch beim letzten Mal gesehen hatte. Der Topf hatte weder Rost noch Beulen, es musste ein neuer sein. Auch der Tisch und die Bänke standen an der alten Stelle. Neben dem Schrank hingen die Holzkellen und die Messer. Wann würde Helena sie das nächste Mal benutzen? Endres wünschte sich, dass es bald sei. Es kam ihm schon wie eine Ewigkeit vor, dass Helena fortgegangen war. Alles hatte sich verändert, alle hatten einen Neuanfang gewagt.

Er, Endres, war im Kloster geblieben. Seine Mutter Helena und sein Bruder Lorentz waren fortgezogen, um den Menschen in anderen Dörfern zu helfen. Die Dorfbewohner hatten sich den Verletzungen erholt und waren zurückgegangen. Es schien alles überstanden. Endres kam die Prophezeiung, die Jylge vom Rudel der Sterne erhalten hatte, wieder in den Sinn. Es würde etwas Schlimmes bevorstehen. Schon wieder?, fragte sich Endres. Warum konnte nicht alles in Frieden leben?

Aber er konnte nicht sagen, was mit der Prophezeiung gemeint war. War es nur ein strenger Winter, in dem es wenig Beute geben und das Rudel hungern und frieren würde? Oder würde eine neue Bedrohung aufsteigen? Endres wusste es nicht. Konnte es auch sein, dass es nur für die Wölfe galt? Oder war wieder alles miteinander verstrickt? Die Zeit würde die Antwort bringen. So viel hatte sich verändert.

Die Menschen waren selbstbewusster geworden, bereit, den Neuanfang zu wagen und sich gegen alles zu wehren, das sich ihnen in den Weg stellte. Agnes zum Beispiel. Im Kloster war sie ängstlich gewesen und hatte viel geweint. Aus ihr war ein selbstbewusstes Mädchen geworden, das mit Optimismus in die Zukunft blickte. Endres mochte sie. Sie verströmte Lebensmut und Freude, sobald man in ihrer Nähe war. Er würde am liebsten nie wieder von ihrer Seite weichen. Er wollte sie beschützen, so wie er es beim Angriff auf das Kloster getan hatte. Doch brauchte sie überhaupt noch jemanden, der sie beschützte?

Eigentlich wünschte sich Endres, dass es so wäre, aber auf der anderen Seite auch nicht. Plötzlich kam er sich nutzlos vor. Während die Dorfbewohner das Dorf wieder aufbauten, hielt er sich im Kloster auf. Selbst dort machte er nicht viel. Er half Bruder Paulus im Klostergarten, aber mehr auch nicht. Alle waren so anders als er. Er, der nachts mit den Wölfen wandelte. Sollte er sich dafür verurteilen? Es hatte alles seinen Grund, auch wenn Endres diesen bis heute nicht erkannte hatte. Warum hatte das Rudel der Sterne ihn ausgewählt?

Er hätte gerne eine Antwort auf diese Fragen gehabt, doch er sagte sich, dass nur er das herausfinden könnte. Hätte er seine Gabe nicht gehabt, hätte Agnes nicht überlebt. Das hätte er sich nie verzeihen können. Hör auf! Hör auf damit! Die Stimme in seinem Kopf wurde lauter. Du wirst noch wie Bruder Paulus. Nein. Endres hatte sich das Ziel gesetzt, Bruder Paulus wieder zu dem Menschen zu machen, der er vorher gewesen war. Der aufgeschlossene, freundliche Mönch, mit dem man über alles reden konnte.

So gesehen sein bester Freund, auf den er sich verlassen konnte. Und wenn er wollte, dass es weiterhin so war, dann waren die schlechten Gedanken ein Schritt in die falsche Richtung. Er holte tief Luft. Im Leben hatte alles eine Bestimmung. Nichts geschah ohne Grund. Endres sah sich noch einmal um. Sobald Helena einmal hier gewesen war, würde es wieder die Hütte sein, die er gekannt hatte. Die einzige Hütte, in der es nach den verschiedensten Kräutern duftete. Endres hatte den Geruch geliebt, doch jetzt roch er nur das Holz. Sogar die Stiege hatten die Dorfbewohner wiederaufgebaut.

Dort oben, wo Endres die Bücher und Lorentz' Stofftier aufbewahrt hatte. Nun, wo er die Hütte sah, genauso, wie er sie immer gekannt hatte, wusste er, dass der Angriff überstanden war. Warum also nicht in die Zukunft blicken? Er lief nach draußen, um Bruder Paulus zu suchen. Er fand ihn an der Schmiede, wo er kleinere Verletzungen behandelte. „Ich bin hier soweit fertig", gab er bekannt und lächelte seit langem wieder.

„Wollen wir wieder zurück? Desto schneller wir wieder im Kloster sind, desto eher können wir mit den anderen Mönchen wiederkommen, um zu helfen." Desto eher konnten sie wiederkommen? Endres zuckte innerlich zusammen. Die Große Reise. Morgen Nacht würde sie beginnen. Er würde sicherlich mehrere Tage unterwegs sein mit Jonata und Alba. „Ich... ich muss nochmal schnell zurück", sagte er zu Bruder Paulus. „Du kannst schon vorausreiten, ich hole dich eh ein!"

Das herausfordernde „Das wollen wir doch erstmal sehen!", das Bruder Paulus erwiderte, bekam er nicht mehr mit. Er rannte zurück. Agnes war gerade dabei, eine Hütte auszukehren. Endres lief zu ihr. „Wollt ihr zurück?", fragte sie. „Ich muss dir etwas sagen", gestand Endres. Agnes stellte den Besen zur Seite. Endres sah sich um. Es war kein anderer in der Nähe, alle waren beschäftigt. „

Ich werde für eine Weile fortgehen müssen", erklärte Endres leise. „Warum? Hat es was mit den Wölfen zu tun?", wollte Agnes wissen. Endres hielt ihr schnell den Mund zu. „Nicht so laut", sagte er zu ihr. „Sonst bekommen es die anderen doch mit. Weißt du noch? Im Kloster haben wir versprochen, dass es unser Geheimnis bleiben soll." Agnes nickte. „Also stimmt es?", fragte sie. Endres nickte.

„Ich werde wiederkommen, versprochen", versprach er ihr. „Eben nur nicht so bald." „Egal, wie lange es dauert, ich warte auf dich", sagte Agnes. „Obwohl ich dich schon jetzt vermisse." Sie umarmte Endres und legte ihren Kopf an seine Brust. Er streichelte ihr durch die Haare. Auf einmal wirkte sie doch wieder so klein und zerbrechlich, wie sie ihm gerade so bis zur Brust reichte. „Ich werde dich auch vermissen", sagte er.

Im Reich der Wölfe - Halbmond (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt