15- Rang und Ordnung

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15- Rang und Ordnung


Die Wölfe wechselten sich ab. Einige zogen das erlegte Tier zurück zur Höhle, die anderen passten auf, dass kein Hindernis ihren Weg blockierte. Wenn ein Wolf nicht mehr konnte, tauschten sie die Aufgaben. Endres wunderte es, wie oft sie schon getauscht hatten, aber der Höhle immer noch nicht näher waren. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, als sie endlich den Eingang erreichten und von den wachehaltenden Wölfen begrüßt wurden. „Wir müssen das Tier vor den Großen Stein legen", erklärte Graupelz.

Endres brauchte nicht nachzufragen, was mit dem großen Stein gemeint war. Es war das große Plateau, auf dem Nachtschatten zu seinen Wölfen sprach und über den man in die zweite Höhle gelangte. Die Wölfe legten die Ziege zu den anderen Beutetieren der anderen Jagdpatrouillen. „Es war schön, mit euch zu jagen. Danke, dass wir mitkommen durften", sagte Alba zu den Bergwölfen. Die Patrouille war wieder in der Höhle, die Zusammenarbeit also beendet. „Das war doch überhaupt kein Problem", versicherte Monduntergang. „Im Gegenteil, es war uns sogar ein großes Vergnügen", pflichtete ihr ihre Schwester bei.

„Vielleicht habt ihr ja morgen Lust, noch einmal mit uns loszuziehen. Ich habe das Gefühl, dass ihr gute Jäger seid", bot Graupelz an. „Das werden wir sehen", sagte Endres, womit er nicht zusagte, aber auch nichts versprach. „Wir werden dann wieder zu Jonata und Sonnensplitter gehen." Die Bergwölfe verabschiedeten sich und zogen sich zu ihren Rudelgefährten zurück. Endres und Alba machten sich auf den Weg zu ihrer Höhle. Sonnensplitter hockte davor auf einem Stein und sah dem Treiben unten zu.

„Sind die beiden Jäger also wieder da", begrüßt e er sie. „Wie ich sehe, wart ihr erfolgreich. Die Ziege sieht sogar von hier oben lecker aus." „Vielleicht kriegst du ja ein Stück ab", vermutete Alba. „Ach, rede nicht", erwiderte Sonnensplitter. „Wir Eulen fressen nur, was wir auch selbst fangen können. Eine Ziege war noch nie dabei."

Er sah die beiden Wölfe an. „Aber es ist ziemlich interessant zu sehen, wie die Wölfe hier fressen", meinte er. „Ich habe es in den letzten Tagen beobachtet." Endres hatte sich bisher nie über diese Gepflogenheiten Gedanken gemacht. Ein Wolf hatte ihnen das Futter gebracht und was die anderen Wölfe machten, bekam er nicht wirklich mit, da er die meiste Zeit bei Jonata in der Höhle blieb. „Ihr seid doch sicherlich schon dahintergekommen, dass hier jeder Wolf einen Platz in einer strengen Rangordnung hat", vermutete Sonnensplitter.

Ehe jemand antworten konnte, sprach er weiter: „Sie fressen nur zu zwei bestimmten Zeiten am Tag. Einmal, wenn die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hat und dann noch einmal am Abend, wenn sie schon wieder untergeht. Nachtschatten verkündet die Mahlzeit und er ist auch der erste, der sich etwas von der Beute aussuchen darf. Dann nehmen sich die Wölfe etwas, die in der Rangfolge nach ihm kommen. So wird der Beutehaufen zunehmend kleiner, die rangniedrigen Wölfe bekommen manchmal nur ein mageres Etwas oder gar nichts mehr ab."

Nachdenklich starrte Endres nach unten und betrachtete die Wölfe. Wie musste es wohl sein, wenn man einen niedrigen Rang im Rudel hatte und manchmal tagelang nichts zu fressen bekam? Vor allem im Winter wurde beute knapper. Er selbst hatte als Wolf noch keinen Winter erlebt, aber auch als Mensch wusste er, dass es im Winter schwierig war, genug zu essen zu haben. Vorräte aus dem Herbst oder aus dem Sommer faulten nicht selten oder reichten wegen der hohen Abgaben nicht aus. Trotzdem schafften es die Dorfbewohner jeden Winter zu überstehen.

Die Regel war nirgends festgeschrieben, aber dennoch folgten ihr alle. Man teilte das Essen untereinander und half sich, sodass die Kinder, die Kranken und die Alten immer eine Mahlzeit bekamen. Die Erwachsenen mussten sich meist mit einer kleinen mageren Mahlzeit zufriedengeben. Endres wusste nicht, ob es in anderen Dörfern auch so war. So wie es ihm schien, hatte er ein ziemlich gutes Leben im Dorf geführt. Sein Vater war zwar nie zu Hause, weil er als schlechtbezahlter Seemann angeheuert hatte, bis er bei einem Schiffsuntergang umgekommen war, aber trotzdem hatte es ihnen nie an etwas gefehlt.

Im Reich der Wölfe - Halbmond (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt