2- Sternenwölfe

130 19 1
                                    

2- Sternenwölfe


Die Nacht war mit ihrer Schwärze über die Große Ebene hereingezogen. Der kühle Wind strich durch das Gras, doch er schien an den Gestalten abzuprallen. Jede von ihnen zog wie ein Licht über die Ebene, funkelnd wie Sterne. Der Pelz grau und doch so schemenhaft, dass man das sich wiegende Gras erkennen konnte.

„Ein Sturm zieht auf", vermutete eine der Gestalten. „Gegen das, was kommt, wird dieser Sturm ein laues Lüftchen sein", erwiderte eine andere. Die Gestalten tappten durch das Gras und liefen zielstrebig auf eine kleine Erhebung zu. Wie Glühwürmchen näherten sie sich dem Wolf, der auf dem Hügel lag, den Körper zusammengerollt, zum Schutz vor dem Wind. Als sich die Gestalten genähert hatten, hob er den Kopf. Er musterte sie, wie sie sich im Kreis um ihn herumsetzten. „Wir haben dir eine Nachricht zu überbringen", verkündete eine von ihnen mit fester Stimme. Der Wolf wollte schon die Schnauze öffnen, um etwas zu sagen, doch noch ehe ihr ein Ton entwischen konnte, erhob eine der Gestalten Einspruch. „Du weißt, dass du während der Sternenträume nicht sprechen darfst."

„Die Frage, was die Nachricht enthält, brennt auf deiner Zunge wie das Feuer, das in dir lodert", sagte eine andere. „Der Neumond war ein Zeichen des Neuanfangs. Ihr habt etwas getan, was noch nie ein Rudel Wölfe getan hat. Ihr habt zusammen mit den Menschen gegen eine Bedrohung gekämpft, die euch alle hätten vernichten können. Aber euch steht noch etwas weitaus Schlimmeres bevor."

Die Gestalt schwieg. Eine andere ergriff das Wort: „Du musst stark sein. Du darfst nicht aufgeben. In dir muss brennen, was du in anderen entzünden willst. Nur so kommt ihr durch die schwere Zeit. Du warst bereits stark. Du hast noch nie aufgegeben, aber lass dir eines gesagt sein: der herannahende Winter allein ist es nicht. Kälte und Eis werden kommen, die alles zunichtemachen. Pass auf, dass sie das Feuer nicht auslöschen." Die Gestalten erhoben sich und verschwanden im hohen Gras. Der Wolf blickte ihnen ratlos hinterher. Warum sprachen die Sternenwölfe immer in Rätseln?


„Er soll endlich aufwachen!", wisperte Jonata. „Ich friere hier noch fest." „Hab dich nicht so", schnauzte Anthoni zurück. „Der Winter kommt erst noch. Dann wirst du erst sehen, was es wirklich bedeutet zu frieren." Gebannt starrten die Wölfe hinauf zum Hügel. Sie versuchten den kalten Wind zu ignorieren. Jylge erhob sich endlich und streckte sich. „Ich habe eine Nachricht vom Rudel der Sterne erhalten", verkündete er. „Sie sprachen von Eis und Kälte, die uns vernichten könnten, aber damit werden sie nicht nur einen strengen Winter meinen."

"Das hört sich nicht gut an", sagte Jonata leise zu Endres. Er schüttelte sich. "Das ist es wirklich nicht", stimmte er ihr zu. "Aber auch das werden wir schaffen." "Doch ich kenne mein Rudel und ich weiß, dass wir auch diese schwere Zeit überstehen werden. Wir lassen uns nicht unterkriegen", sprach Jylge. Mit Stolz in den Augen sah er auf das Rudel herab. "Wir brauchen den anderen mehr als je zuvor. Aus diesem Grund, ist es mir ein Vergnügen, verkünden zu dürfen, dass für einige Wölfe die Zeit gekommen ist, die Große Reise anzutreten." Endres und Jonata sahen sich erstaunt an.

"Ich... ich habe noch nicht damit gerechnet, dass wir schon so weit sind", murmelte Endres. "Ich auch nicht", wisperte Jonata zurück. "Jonata, Endres und Alba werden in drei Sonnenuntergängen ihre Reise antreten", verkündete Jylge. "Ich bitte die Sternenwölfe, sie zu beschützen und heil wieder zu uns zurück zu bringen. Noch ist der Winter ein paar Monde entfernt, deswegen bin ich zuversichtlich, dass sie die Große Reise meistern werden, wie viele Wölfe vor ihnen. Sie haben die Warme Zeit über hart gekämpft und geübt. Dabei war es nicht immer einfach für sie. Doch ich habe meinen Entschluss gefasst, diese Wölfe zu vollwertigen Mitgliedern meines Rudels zu machen."

Lautes Geheul der anderen Wölfe erklang. "Ich spreche im Namen des ganzen Rudels, wenn ich sage, dass wir stolz sind, Wölfe wie euch in unserem Rudel zu haben", verkündete Jylge. Verlegen sah Endres zu Boden. Er war es nicht gewohnt, so viel Aufmerksamkeit von den anderen zu bekommen. Sein Mentor Geras kam zu ihm gelaufen. "Ich bin stolz auf dich", sagte er. "Ich hätte nie gedacht, dass Jylge dich zusammen mit Jonata und Alba auf die Große Reise gehen lässt."

"Ich auch nicht", erwiderte Endres. "Die Versammlung ist hiermit beendet", rief Jylge vom Hügel aus, bevor er heruntersprang und mit den anderen Wölfen des Rudels den Weg zum Lager antrat. Jonata und Endres ließen sich zurückfallen, um auf Alba zu warten. Der dritte Jungwolf hatte nicht bei ihnen gesessen, doch auch er hechelte aufgeregt. "Ich kann es kaum erwarten", sagte er aufgeregt. "Bis zum Aufbruch werde ich wohl kaum stillhalten können."

"Ich beneide Endres und Jonata nicht, mit dir in einer Höhle schlafen zu müssen", meinte Agathe abschätzig, als sie an den drei Wölfen vorbeilief. "Wenn wir wieder da sind, werden wir vollwertige Rudelmitglieder sein", knurrte Jonata. "Dann kann mich dieses Bärenhirn gernhaben!"

"Mich auch", ergänzten Endres und Alba gleichzeitig. Die drei Wölfe folgten den anderen Wölfen zum Lager. Der Wind wurde stärker und zerzauste ihnen den Pelz. Die Äste wogen sich im Wind und ließen die bunten Blätter zu Boden fallen. Das Laub raschelte unter den Pfoten der Wölfe. Es würde nicht mehr allzu lange dauern, bis der Winter mit Frost, Eis und Schnee über die Große Ebene hereinzog. Doch Endres beschlich das Gefühl, dass mit den vernichtenden Eis und Schnee nicht nur die Strenge der Kalten Zeit gemeint war.

Wenn das Rudel der Sterne Jylge vor einer solch schweren Zeit warnte, dann musste es noch etwas Anderes sein. Etwas viel Schlimmeres, das das Eis und den Frost in den Schatten stellte. Endres versuchte krampfhaft zu überlegen, welche Gefahr dem Rudel drohen könnte. Planten die Bären von der anderen Seite des Polterwegs einen Angriff? Kamen die Raubritter etwa doch zurück?

Nein, sagte Endres zu sich. Das kann nicht sein. Es war schon wieder einige Mondwechsel her, dass das Rudel zusammen mit den Menschen aus dem Kloster, das sich in der Nähe des Lagers befand, gegen die Raubritter gekämpft hatte. Obwohl sie brutal waren und keine Gnade kannten, hatte man sie geschlagen. Endres schauderte es immer noch, wenn er daran dachte, dass es keine Möglichkeit gegeben hätte, gegen die Raubritter anzukommen, hätten sich Wölfe und Menschen nicht verbündet.

Somit hätte Endres auch nie seine Mutter Helena wiedergesehen. Das Gefühl von Heimweh beschlich ihn. Helena hatte nicht im Kloster bleiben und auch nicht zurück ins Dorf gehen wollen, um beim Wiederaufbau zu helfen. Sie wollte von Dorf zu Dorf ziehen, um den Menschen zu helfen, die Ebenfalls Opfer eines Angriffs der Raubritter geworden waren. Endres vermisste sie. Seit mehreren Wochen war sie nun schon unterwegs und er hatte sie noch nicht wiedergesehen.

Dabei hatte sie ihm versprochen, dass sie, so oft sie kann, ins Kloster zurückkommt. Endres' kleiner Bruder Lorentz war ebenfalls mit ihr gegangen. Obwohl er oft nerven konnte und viele Dummheiten machte, fehlte er Endres. Er blickte zum Himmel hinauf. Zwischen den Baumwipfeln sah er nur wenige Sterne.

Bitte, Rudel der Sterne, wache gut über die beiden!

Im Reich der Wölfe - Halbmond (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt