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Enrico:

Er hatte Menschen beim Gehen zugesehen - beim Sterben. Er hatte ihren Tod damals einfach so hinnehmen können, weil er sein Pokerface bewahren und bei der Sache bleiben musste. Kriege, Überfälle, Entführungen, Raubzüge, Folter, alles hatte er mit angesehen oder selbst durchmachen müssen. Und nun stand er hier, in der Stadt, in der er einst zu Hause gewesen war. In der Stadt, in der die besten und gleichzeitig schlechtesten Jahre seines Lebens stattgefunden hatten. Es war überwältigend, wieder hier zu sein, nach drei Jahren und viel zu vielen Kämpfen. Irgendwie schien es ihm unrealistisch, hier zu sein, nachdem er dem Tod in die Augen gesehen hatte und zurück ins Leben geflüchtet war. Nun hatte er abgeleistet und war zurück nach Hause geschickt worden, um sich von seinen Verletzungen erholen zu können. Er war unbrauchbar im Moment, da er kaum laufen und immer unter Schmerzen stehend nicht richtig schießen konnte. Und irgendwie war er froh darüber, weg zu sein. Seine Vergangenheit fürs Erste ruhen zu lassen und sich voll und ganz der Zukunft hinzugeben, bis er wieder zurück müsste.

Er humpelte über die Brücke, vorbei an zahlreichen, lachenden Menschen, die ihn nicht bemerkten. Und wenn sie ihn bemerkten, dann senkten sie ehrfürchtig ihren Kopf und zeigten ihm ihren Respekt. Nie hatte er verstanden, wieso diese Leute dies genau taten. Er kämpfte schließlich momentan nicht für ihr Land, sondern wurde zuletzt in Äthiopien aufgestellt. Er trug nur ihre Flagge und wollte nun nach Hause kommen, sich erholen von diesen Jahren, die ihn an sein körperliches und mentales Limit gebracht hatten. Diese Jahre, die ihn müde gemacht hatten. Inzwischen zählte er zu den Besten unter seinen Kameraden, doch einer der Besten zu sein, trug harte Arbeit und einen unerschöpflichen Drang zur Beschützung mit sich - beides fiel nun glücklicherweise von ihm ab.

Eine Traube Menschen kam ihm entgegen, lachte laut und redete durcheinander. Es waren sechs Männer und zwei Frauen. So ähnlich war sein Leben auch mal gewesen - bevor er sich für die harte Ausbildung entschieden und durch die ganze Welt versetzen lassen hatte. Er hatte Freunde, Familie, viele Bekannte und ein gutes Leben gehabt. All das hatte er nun verloren, was er selbst auch ein wenig verschuldet war.  All das, was einst Teil seines Lebens war, war weg. Ihm wurde keine Möglichkeit gelassen, um seine Menschen - seine Freunde - zu kontaktieren und ihnen zu sagen, dass sie auf ihn warten sollten, weil er ohne sie alleine dastünde. Er hatte es nicht tun können. Und nun tat er genau dies - er stand alleine da.

Langsam drehte er seinen Schlüssel im Haustürschloss, sein Herz schlug hoch und laut, sein ganzer Körper schien sich darauf zu freuen, endlich nach Hause zu kommen. Nach Hause, in seine WG. Nach Hause, nach so langer Zeit. Er hätte endlich eine Heizung, könnte sich eine einfache Jogginghose und irgendein Shirt überziehen, könnte sich dann Essen machen, wann er wollte, könnte Filme, Serien, Dokus, Nachrichten, alles schauen und seinen Alltag selbst bestimmen. Seine Mitbewohner würden auf ihn Rücksicht geben, das wusste er. Rücksicht war etwas, was sie alle besaßen. Ob jemand Neues noch dazu gezogen war?

Aufgeregt steckte er den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn, bis es leise klickte und drückte die Tür auf. Der alte Geruch nach Blumen und Räucherstäbchen lag noch immer in der Luft, welche ihm nun entgegen kam, doch sie überdeckte auch den Geruch von Zigaretten, Alkohol und ... Kotze? Es war nicht Jules Art, zu trinken oder gar zu rauchen - und Timothy's erstrecht nicht.

Er trat ein, schloss die Tür und drehte sich erneut um, genau dann, als Jules aus dem Wohnzimmer lief. Die junge Frau erschreckte sich tierisch, sah ihn erschrocken an, doch ebenfalls beobachtete er, wie sich langsam Freude auf ihrem Gesicht breit machte. Und zwei Sekunden später lagen ihre Arme um ihn, zerquetschten ihn komplett und ließen ihn nicht mehr zu Luft oder gar zu Wort kommen. Anscheinend war er ordentlich vermisst worden, ansonsten würde Jules nicht so reagieren. Sie war nie ein sonderlich erfreuter Mensch, nahm das Leben häufig viel zu ernst und sah den Tod an allen Ecken und Enden der Stadt. Doch so war sie eben - ängstlich, ernst, perfektionistisch, strukturiert. Sie war eben Jules - seine beste Freundin, selbst wenn er nicht da war.

»Enrico? Was machst du hier? Wie kommst du her? Ich-«, sie brach ab und umarmte ihn stattdessen erneut, er grinste und umarmte sie ebenfalls. Es tat gut, seine beste Freundin mal wiederzusehen - live und in Farbe, nicht nur über einen Videoanruf wenn er im Krankenhaus lag. »Zerquetsch mich bitte nicht, Jules. Wir haben ein halbes Jahr, dann muss ich zurück, nur damit du es weißt.« Nun ließ sie ihn doch los. »Du bist verletzt?«, fragte sie alamiert. »Nicht schlimm, nur kann ich bei einem plötzlichen Überfall nicht mehr so schnell reagieren und ... ach, du kennst ja die Regelung.« Sie nickte, sah in seine Augen und lehnte sich leicht an ihn. »Deine Stimme ist anders.« Er grinste erneut. »Frag mich jetzt bitte nicht wieso.« »Weil du ein Spätzünder warst und jetzt aus dem Stimmbruch raus bist«, murmelte sie mehr zu sich selbst als zu ihm. »Jap, exakt. So Jules, den Rest erkläre ich dir gleich, allerdings würde ich sehr gerne etwas anderes anziehen und wenigstens ein bisschen nach Hause kommen.« »Oh, ja, ja, klar.«

Sie machte ihm Platz, ließ ihn in sein Zimmer humpeln, ohne weiteren Kommentar. Nachdem er die Zimmertüre geschlossen und seine Sachen auf den Boden gelegt hatte, ließ er sich erschöpft auf sein Bett fallen, sog den Geruch des guten Waschmittels ein und fühlte sich kurzzeitig, als wäre er im Himmel. Trotz der plötzlich Müdigkeit und Erschöpfung, die ihn überkam, rappelte er sich auf, zog die schwere Kleidung aus und wechselte sie gegen eine einfache Jogginghose und ein lockeres, viel zu weites Shirt seines Bruders. Seine wenigen Sachen verstaute er in dem kleinen Raum, dann trat er erneut auf den Flur. Der kühle Boden unter seinen Füßen hatte etwas beruhigendes, etwas von nach Hause kommen. Er hatte vermisst, was er hier zurückgelassen hatte, hatte vermisst, wie ruhig es hier war. Ebenfalls hatte er vermisst, dass er hier vermutlich niemals unter Beschuss stehen würde.

Das erste, was er ansteuerte, war logischerweise der Kühlschrank, aus welchem er sich eine Flasche Cola nahm und diese anschließend mit dem Flaschenöffner, welcher am Kühlschrank hing, öffnete. Als der erste Schluck seine Zunge erreichte, schloss er leicht die Augen und genoss, was er schon länger nicht mehr hatte - Ruhe, Zeit, Cola. Dann ging er weiter ins Wohnzimmer, lehnte sich in den Türrahmen und beobachtete Jules dabei, wie sie ihren Laptop an die Mehrsteckerleiste anschloss. Auf der Couch saß jemand fremdes, den er vermutlich noch nie gesehen hatte - obwohl er ihm irgendwie bekannt vorkam.

»Haben wir einen Gast oder wart ihr beiden ohne mich so einsam, dass wir einen neuen Mitbewohner haben?« Erneut zuckte Jules zusammen und sah mich genervt an, der Typ auf der Couch hingegen blieb ruhig und cool. »Hör auf mich so zu erschrecken, Enrico! Sonst habt ihr drei Hübschen nicht mehr lange etwas von mir!« Nun grinste der Fremde, welcher mich trotzdem mit leeren Augen ansah. Es war ein Lächeln, welches seine Augen nicht beleuchtete. Komisch. »Tut mir leid, hab nur keine Lust, mich immer anzukündigen.« Enrico stieß sich vom Türrahmen ab, nahm einen weiteren Schluck seiner Cola und ging auf Jules zu. Die Frau sah neben ihm noch kleiner aus, als sie eigentlich war, was er ihr nicht wirklich verübeln konnte. Er liebte seine beste Freundin, egal wie groß oder eben klein sie war.

»Also?«, fragte er erneut nach. »Achso, ja, ääähmmm ... also, William«, sie zeigte auf den jungen Mann auf der Couch. »Enrico«, sie zeigte auf mich. »Enrico, William«, das selbe Spiel. »Dankeschön, Jules, das war die Vorstellung, die ich erwartet habe.« Ich grinste und begab mich zu - wie hieß er noch gleich? - William. Wir gaben uns die Hand und stellten uns so nochmal vor, dann ließ ich mich neben ihn auf das Sofa fallen und wir beobachteten stillschweigend, wie Jules ihren Laptop nun hochfuhr.

»Jules und Technik ist wie Wasser und Öl. Sie können sich nicht miteinander verbinden.« William grinste, während Jules mir einen warnenden Blick zu warf. »Pass auf was du sagst, junger Mann! Ansonsten kannste ein halbes Jahr auf der Straße wohnen!« Nun grinste auch ich. »Ich bin verletzt, Jules. Das kannst du nicht tun. Außerdem wissen wir alle, dass dein schlechtes Gewissen mich vermutlich eine Minute draußen alleine lassen würde, bevor du dich entschuldigen und mich zurückholen würdest.« Sie schnaubte, erwiderte jedoch nichts und begann, uns zu ignorieren, während wir in ein lockeres Gespräch rutschten. Es ging um alles mögliche - Partys, Schulen, Jules, Timothy - und ich fragte mich, ob ich ihn tatsächlich kannte. Alles an ihm kam mir bekannt vor. Seine leicht raue Stimme, die wuscheligen braunen Haare, die dunkelbraunen Augen, das spitze, freudlose Gesicht, die Worte, die er ausließ. Doch ich wusste, dass ich keinen William kannte. Genauso wenig kannte ich einen Will oder einen Liam, weshalb es quasi unmöglich war, dass ich ihn kannte. Doch mein Gefühl sagte mir etwas anderes, möglicherweise sogar falsches.

Lost Souls | boy×boyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt