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William:

Enrico war cool, richtig cool. Mit den Jahren hatte er sich kaum verändert. Er war immer noch ziemlich offen, fuhr sich mit derselben, unauffälligen Bewegung durch die Haare, lächelte und lachte viel, ließ seinen Charm mitspielen. Er hatte weiterhin alles an sich, was Liam an einem Typen wollte. Rico war seine Vorlage gewesen, für jede Beziehung, für jeden anderen Typen. Er war sein perfekter Rico, sein alter, allerbester Freund. Und doch schienen sie sich nun nicht mehr zu kennen. Irgendwie hoffte er, dass Enrico ihn erkennen würde. Er hoffte, dass er ihn ansprechen würde, doch er tat es nicht. Ihr ganzes Gespräch über nicht.

Sobald es still zwischen ihnen wurde, hiefte William sich hoch, schnappte sich sein Handy von der Couch, welches aus seiner Tasche gerutscht war und beschloss, dem Gefühlschaos ein Ende zu setzen. »Ich geh ne Runde quarzen.« Schnell ging er in sein Zimmer, nahm sich Zigarette, Feuerzeug, eine dicke Jacke und seine Schlappen, dann ging es zurück ins Wohnzimmer und er ging auf den Balkon. Sobald er sich die Zigarette angezündet und zwischen die Lippen gesteckt hatte, lehnte er sich gegen die Wand und begann nachzudenken. Wie konnte es sein, dass er ihn nicht vergessen hatte? Dieser junge Mann, der nun auf dieser WG-Couch saß, hatte er eine so große Rolle in seinem Leben gespielt, dass er ihn nicht hatte vergessen können? Es fühlte sich scheiße an, dass er Enrico nicht vergessen konnte, es andersrum allerdings scheinbar prima funktioniert hatte.

Nach etwas mehr als der halben Zigarette hatte er das Gefühl, endlich runter kommen zu können, eine gewisse Ruhe breitete sich in ihm aus und er schloss die Augen, lehnte den Kopf gegen die Wand und genoss wie nichts, nur das Vogelgezwitscher und die vorbeifahrenden Autos, seine Ruhe durchkreuzten. Vielleicht sollte er doch feiern gehen, seinen neuen Vorsatz doch wieder durchbrechen und sich volllaufen lassen, bis sein Kopf nicht mehr denken würde. Jules würde ihn morgen früh dafür verurteilen. Sie würden ihm sagen, dass er endlich aufhören zu trinken und zu einer Therapie gehen sollte. Und dann würde sie sich entschuldigen und ihm sagen, dass sie sich einfach zu viele Sorgen um ihn machte, weil er sein Leben verlieren und nichts für seine Zukunft machen würde. Irgendwie hörte sich dieser Plan doch besser an, als nüchtern zu bleiben und sich den ganzen restlichen Tag seinem alten, jugendlichen Herzschmerz auszusetzen.

Nachdem er die Zigarette ausgedrückt und die Balkontür hinter sich wieder zugezogen hatte, womit er all die Ruhe von vorhin verließ, seine Gedanken sich wieder ordneten und ein erneutes Gedankenkarussel entstand, sah er in Jules vorwurfsvolles Gesicht. »Also ... ich bin gleich weg ... wenn es okay für euch ist? Oder wollt ihr heute ein WG-Essen machen?« Er lächelte die junge Frau unschuldig an, wobei er sich fühlte, als ob er ein 14-jähriger wäre, welcher seine Mutter davon überzeugen musste, auf eine Party mit harten Drogen und mehr Erwachsenen als Minderjährigen gehen zu können. »Hör verdammt nochmal auf so viel zu trinken, sonst bringe ich dich persönlich in die Klapse. Willst du so gerne deine Mutter sehen?« Er grinste, wollte einen seiner frechen Kommentare rauslassen, doch dann wurde ihm bewusst, was Jules vor Enrico gesagt hatte. Denn dieser hatte trotz ihrer gemeinsamen Schulkarriere keine Ahnung davon, was bei William zu Hause vorgegangen war. Sein unsicherer Blick ging zu dem Mann auf der Couch, welcher sich komplett unfaszinniert von dem Gespräch zeigte, während er irgendwas auf seinem Handy nachsah.

»Ja klar, ich vermiss sie ja so sehr«, meinte er plötzlich kühl, nachdem er sich zu Jules vorgelehnt hatte. »Also, bis später dann!« Er ging, ließ Jules und seine Jugendliebe alleine im Wohnzimmer zurück und konnte nicht einmal sagen, wieso ihn das so froh machte. Vielleicht, weil er endlich weg konnte? Weil er einfach nur dem nachgehen konnte, nach was er sich sehnte?

Sobald er die Haustüre hinter sich hatte zufallen lassen, fand er, dass die Welt plötzlich stehen zu bleiben schien, und ganz still wurde. Für einen Moment stoppte alles, die Dunkelheit sog ihn auf, verschluckte ihn, die Ruhe um ihn herum fühlte sich wie eine warme Decke an einem kühlen Wintermorgen an. Ein vorbeifahrendes Fahrrad mit etwas quietschenden Reifen zerstörte die Idylle, schien dicke Löcher in die Decke zu bohren und er war zurück in einer vollen, lauten, widerlich stinkenden, von Menschen förmlich überfluteten Welt, in der er aus allen Ecken und Winkeln beobachtet wurde. Blicke schienen ihm immer zu folgen, egal, wo er hinging, oder was er tat. Sie folgten ihm genauso, wie diese bitteren Gedanken und die dazugehörige düstere Stimme.

Seine Schritte waren auf dem Weg scheinbar lautstark zu hören, die kleinen Steinchen überall verhakten sich in seinen Schuhsohlen und klapperten über den Asphalt. Die Augen verfolgten ihn, solange er hier war. Sie verfolgten ihn, solange er sich nicht in die Menge warf, sich ihnen voll und ganz hin gab. Solange er zu sehen war, lagen sie auf ihm. Sie waren einer der Gründe, warum er gerne die Welt vergaß. Sie sollten ihm dabei zusehen, wie er trank, sie ignorierte, grinste, tanzte und feierte, als ob sie ihn nicht sehen würden - denn genau dies taten sie nicht. Sie würden ihn niemals sehen können, und doch verfolgten sie ihn.

Der erste Shot Vodka brannte ihn nieder, der zweite ließ keinen Ton seine Kehle verlassen und sein Kopf wurde warm. Nach dem dritten hörte er auf zu zählen, wechselte schließlich zu Bier und spürte, wie das Blut in seine Wangen schoss, welche daraufhin an Farbe und Hitze gewannen. Als er seinen Anstand, seine Körperhaltung und seine Vernunft endgültig ertrunken hatte, schloss er sich der Masse an, tanzte, ließ sich berühren und verführen. Er ließ alles an sich vorbei ziehen, während er mehr, mehr und noch mehr trank. Seine Sinne waren schwach, sein Wille piepste hinter dicken, schweren Türen, womit er quasi nicht mehr existent war. Seine Lippen trafen die eines fremden Mannes, ihre Hände fanden an den jeweils anderen Oberkörper, die Berührungsangst war somit für heute entgültig abgeworfen.

Es blieb beim Tanzen. Der Mann ihm gegenüber schlug zwar vor, dass sie beide zu ihm gehen konnten, doch Liam schlug ihm diesen Vorschlag ab. Er wollte nicht mit einem völlig Fremden in dessen Wohnung gehen - der einzige Vorsatz den er, zumindest meistens, nicht brach. Sie beiden gingen auseinander, er zurück an die Bar, der andere verzog sich in den hinteren Teil des Gebäudes. Ein weiterer, brennender Shot Vodka, welcher sich in sein Herz zu brennen schien. Er wollte nicht mehr tanzen, das Betrunkensein ließ ihn zu einer Art bockigen Kindes werden - er wollte nichts und alles gleichzeitig, während er totmüde war und das Gefühl hatte, gleich kotzen zu müssen.

Durch die Menge hindurch zu kommen war auch an diesem Abend der schwierige Teil seiner Nacht. Seine Schritte waren zwar schnell und mit einem Ziel, doch er wurde so häufig herum geschubst, dass er glaubte, die Orientierung zu verlieren. Als er schließlich doch das Toilettenschild der Männertoilette sah, sprintete er nahezu darauf zu, riss die Tür auf und ging in eine Kabine. Dann lehnte er sich über die Kloschüssel und entleerte mit ein paar Mal würgen seinen Magen. Und dann merkte er wieder, wie sehr er Alkohol doch eigentlich hasste. Der Ekel vor sich selbst breitete sich in ihm aus, auch wenn er gehofft hatte, dass dieser erst morgen wieder eintreten würde. Doch er war gut - heute zumindest. Denn er ließ ihn die Party verlassen, durch die Straßen stolpern und sich selbst so widerlich fühlen, dass er nichtmal daran dachte, noch mehr zu trinken. Und dabei dachte er, dass er alles menschliche ertrunken hatte, was es zu ertrinken gab.

Lost Souls | boy×boyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt